Ein mit Plakaten bespannter Würfel ist auf dem breiten Gehweg aufgebaut. Direkt davor kommen die Menschen in Schüben aus dem Metroausgang, hier im Westen von Moskau fast am Ende der dunkelblauen Linie in Strogino. Es ist Feierabendzeit. Der Würfel sieht modern aus und zeigt das Gesicht eines alten Mannes: von Gennadij Onischtschenko. Er ist kein Unbekannter, sondern der einstige Chef der gefürchteten Föderalen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor. Eine Behörde, die in Russland gelegentlich als verlängerter Arm der Außenpolitik gelten kann – bedenkt man manche Einfuhrverbote wegen angeblich bestehender Gesundheitsrisiken.
Jetzt prätendiert der langjährige oberste Hygieneinspektor Onischtschenko auf ein Direktmandat bei den Wahlen am 18. September zur Staatsduma und ist Zugpferd für die kremltreue Partei „Einiges Russland“. Dafür lässt er so einen feschen Würfel auch dann aufstellen, wenn auf der Wahlkampf-Bühne daneben ein ganz anderer Mann steht. Nämlich Dmitrij Gudkow, der vielen als der letzte Oppositionelle in der Duma gilt und derzeit für seinen Wiedereinzug kämpft. Es ist eine recht absurde Szenerie. Onischtschenko lächelt vom Plakat, während Gudkow bei seinem Auftritt auf dem flachen Holzpodest steht und mit den rund 50 Leuten vor sich darüber spricht, wie Behörden gesetzestreu und Gerichte unabhängiger werden könnten. Auf entsprechende Nachfragen erklärt er, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaft Privatsache und völlig in Ordnung sei, und wie er seinen Wahlkampf über Spenden absichern wolle. Mit Onischtschenko hat er einen starken Gegenkandidaten hier im Wahlabschnitt Nummer 206, im Moskauer Kreis Tuschino.
Insgesamt werden erstmals seit über zehn Jahren wieder Direktkandidaten ins russische Parlament gewählt. Gudkow war vor drei Jahren in der Duma von seiner ursprünglichen Fraktion „Gerechtes Russland“ ausgeschlossen worden und tritt nun für die kleine Oppositionspartei „Jabloko“ an. Dabei gilt er nicht als chancenlos. Das Rennen der beiden ist das wohl spannendste in Moskaus Wahlkreisen. Dass Gudkow antritt, dürften allerdings viele, die bei seinem Auftritt kürzlich nur vorbeigeeilt sind, nicht mitbekommen haben. Ohne Scham haben Onischtschenkos Wahlkampfhelfer während der gesamten zweistündigen Veranstaltung nicht nur besagten Würfel prominent platziert, sondern auch Flyer an die Passanten verteilt. Kaum war der Auftritt beendet und Gudkow gegangen, verschwanden diese Helfer und mit ihnen auch der Würfel vom Metrovorplatz.
Mandy Ganske-Zapf