Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 11. Juni im Bundestag spricht, bleiben dort viele Plätze frei. Die zehn Abgeordneten vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) haben geschlossen den Saal verlassen. Von den 77 Abgeordneten der AfD sind nur vier anwesend. Die AfD-Fraktion begründete den einmaligen Vorgang in einer Erklärung damit, man sei nicht bereit, „einen Redner im Tarnanzug anzuhören“. Selenskyj sei „nur noch als Kriegs- und Bettelpräsident im Amt“. Die Ukraine brauche aber einen „verhandlungsbereiten Friedenspräsidenten“.
Das BSW behauptete in einer Stellungnahme, Selenskyj befördere mit seiner Politik eine „hochgefährliche Eskalationsspirale“. Zwar verurteile man das russische Vorgehen in der Ukraine, heißt es später, doch das Format habe nur Standing Ovations zugelassen, keine Diskussion. Daran wollte man sich nicht beteiligen.
Dieser Affront ist mehr als eine Fußnote vom rechten und linken Rand. Wenige Tage zuvor gehörten AfD und BSW zu den großen Gewinnern der Europawahl in Deutschland. Die AfD holte mit 15,9 Prozent die zweitmeisten Stimmen hinter der CDU und legte gegenüber 2019 um 4,9 Prozent zu. Das Bündnis Sahra Wagenknecht kam aus dem Stand auf 6,2 Prozent.
Triumphzug im Osten
Aber das war noch gar nichts gegen die Ergebnisse in Ostdeutschland. Die AfD wurde in allen fünf neuen Bundesländern mit Abstand stärkste Partei. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo im September Landtagswahlen sind, holte sie zwischen 30,5 und 31,8 Prozent – und damit jeweils mehr als doppelt so viele Stimmen wie die drei Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP zusammen! Punktuell fiel der Abstand sogar noch größer aus. So kam die AfD etwa in Görlitz auf 40,1 Prozent.
Das erst im Januar gegründete BSW schoss bei seiner ersten Europawahl auf einen Stimmenanteil von 12,6 bis 15 Prozent in Mitteldeutschland hoch. Wie auch die AfD, lehnt es deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine ab und fordert Verhandlungen. Das scheint gerade in Ostdeutschland zu verfangen. Die BSW-Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali sagte in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“, man habe mit der Abwesenheit bei der Selenskyj-Rede „vielen Menschen in diesem Land aus dem Herzen gesprochen“. Damit könnte sie sogar recht haben.
Wie die Stimmungslage ist, musste auch der fassungslose britische Popstar Rod Stewart bei einem Konzert in Leipzig erfahren. Als er Sympathie mit Kiew bekundete und das mit eingespielten Bildern untermalte, erntete er Pfiffe und Buhrufe.
Tino Künzel
Zweifel an Militärhilfe weit verbreitet
Dass mit deutschen Waffen von der Ukraine aus in begrenztem Umfang auch Ziele in Russland angegriffen werden dürfen, stößt in Deutschland mehrheitlich auf wenig Gegenliebe. Laut einer Insa-Umfrage für das Nachrichtenmagazin „Focus“ hält eine relative Mehrheit von 43 Prozent die Entscheidung der Bundesregierung für falsch oder eher falsch. 38 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Ebenfalls eine relative Mehrheit will (eher) weniger Waffenlieferungen an die Ukraine. 24 Prozent sind für denselben Umfang wie bisher, 20 Prozent für mehr Waffen. 58 Prozent der Deutschen glauben laut Umfrage, dass sich Deutschland durch die Unterstützung der Ukraine selbst in sicherheitspolitische Gefahr begibt. 28 Prozent der Umfrageteilnehmer stimmten dem (eher) nicht zu.