Herr Wiese, im Moment schauen alle Länder zunächst einmal auf sich. Geht da überhaupt etwas an zivilgesellschaftlichen Kontakten mit Russland?
Auf beiden Seiten wird mit viel Herzblut daran gearbeitet, sie nicht abreißen zu lassen. Eigentlich wollte ich in diesem Frühjahr die Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft des Petersburger Dialogs hier in meiner Heimat im Sauerland begrüßen, damit wir über den Strafvollzug in Deutschland und Russland sprechen. Dieses Treffen musste abgesagt werden. Man versucht, das über Videokonferenzen zu kompensieren. Am Ende werden wir uns auf diese Weise vielleicht sogar mehr sehen als unter normalen Umständen.
Wenn man aus dem Sauerland kommt, ist ein biografischer Bezug zu Russland, wie ihn vielleicht ein Ostdeutscher hat, eher unwahrscheinlich. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Diese Vorprägung gibt es nicht, das ist richtig. Aber ich bin mit einem hohen Interesse an die Arbeit herangegangen, auch mit einer gewissen Unbefangenheit. Inzwischen ist da eine enge Bindung entstanden, die viele Anknüpfungspunkte bietet, bis hinein in den eigenen Wahlkreis. Brilon, meine Heimatstadt, ist Hansestadt, und hätte im Juni die Internationalen Hansetage ausrichten sollen, was nun leider nicht möglich ist. Wir wollten dazu auch Delegationen aus den zwölf russischen Hansestädten willkommen heißen. Ich bin bereits zu den russischen Hansetagen eingeladen, die im August in Welikij Nowgorod stattfinden sollen. Es wird auch erwogen, ob Brilon nicht städtepartnerschaftliche Beziehungen zu einer Hansestadt in Russland aufnehmen könnte.
„In vielen Punkten vorangekommen“
Mitte April waren die ersten zwei von vier Jahren Ihrer Amtszeit als Russland-Koordinator um. Wie fällt eine Zwischenbilanz aus?
Wir haben den Gesprächsfaden wieder intensiviert und an vielen Stellen auch wieder aufgenommen. Das betrifft beispielsweise den Petersburger Dialog, wo heute eine andere Atmosphäre herrscht als noch vor zwei Jahren, das betrifft auch die Städtepartnerschaftskooperationen oder die Themenjahre. Gerade läuft das Deutsch-Russische Jahr der Hochschulkooperation und Wissenschaft, das sehr erfolgreich ist und am 15. September im Beisein der Außenminister abgeschlossen werden soll. Wir stecken bereits in den Planungen für das nächste Themenjahr, das den Schwerpunkt Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung haben wird.
Generell sind wir in den Beziehungen zu Russland in vielen Punkten vorangekommen. Ich nenne nur den Minsker Friedensprozess, Nord Stream 2 und die Tatsache, dass Russland Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geblieben ist, wofür sich Deutschland stark gemacht hat. Das war ein wichtiges Zeichen, aber nicht einfach. Von der Opposition im Bundestag haben wir dafür viel Kritik einstecken müssen.
Sie haben von Anfang an für eine Abschaffung der Visapflicht für junge Menschen aus Russland geworben. Wie ist da der Stand?
Es gibt viel Unterstützung für dieses Anliegen. Aber wenn wir tatsächlich an die Visapflicht ranwollen, dann geht das nur in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern aus dem Schengen-Raum. Und wie Sie wissen, sind da nicht alle sofort Feuer und Flamme, weil eine Visaliberalisierung vielleicht als falsches Zeichen verstanden werden könnte. Da gibt es durchaus noch Widerstände zu überwinden. Aber ich bleibe an dem Thema dran. Wir Sauerländer gelten als stur und hartnäckig.
„Mehr Vor- als Nachteile bei Visaliberalisierung“
Russische Staatsbürger können in weit über 100 Länder visafrei einreisen beziehungsweise Visa an der Grenze oder per Internet erhalten. Ausgerechnet die europäischen Nachbarländer gehören nicht dazu. Ist das nicht ein Anachronismus in unserer Zeit?
Sie haben mich da auf Ihrer Seite. Für mich überwiegen die Vorteile, wenn man Visaverfahren erleichtert und abschafft, klar die Nachteile, die immer wieder angeführt werden, wie zum Beispiel Sicherheitsbedenken.
Die Sanktionen und Gegensanktionen, die zwischen Russland und der EU stehen, haben nachweislich wirtschaftlichen Schaden angerichtet, der politische Nutzen ist aber höchst umstritten. Sollten Sanktionen nicht abgeschafft werden, wenn sie wirkungslos oder sogar kontraproduktiv sind?
Die Einschätzung, dass die Sanktionen nichts gebracht haben, teile ich nicht. Wie sie wieder aufgelöst werden können, ist klar definiert: durch die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Jüngst gab es hier einige konstruktive Schritte.
Das Interview führte Tino Künzel.