Viel Freud und ein wenig Leid im Berliner Nahverkehr

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Ein Berliner Stadtbus: Doppelstöckig fährt man nicht nur in London. (Foto: Uljana Iljina)

Es hat leider nicht sollen sein mit mir und dem Führerschein. Im Auto fühle ich mich schon als Passagier nicht restlos sicher. Und meine Fahrlehrer in Russland pflegten noch auf die kleinste falsche Bewegung, die mir am Steuer unterlief, mit einer Salve an Flüchen zu reagieren, begleitet von Bemerkungen über meine psychischen Unzulänglichkeiten.

Aber hier in Berlin bin ich in dieser Hinsicht beruhigt: Das Nahverkehrssystem ist so effektiv, man möchte sogar sagen elegant, dass keine wirkliche Notwendigkeit zum Besitz eines Pkw besteht. S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn, Bus: Möglichkeiten, sich zügig in der Stadt fortzubewegen und pünktlich ans Ziel zu kommen, sind geradezu im Überfluss vorhanden. Außerdem findet sich immer ein E-Roller in der Nähe. Wer keine Angst hat, dieses ziemlich ungeschützte Gefährt zu besteigen, der kann damit einen Teil des Weges bewältigen und es an einem beliebigen Ort zurücklassen, wo es nicht mehr benötigt wird.   

Durch die Stadt navigieren lässt es sich sehr bequem mit der Fahrinfo-App der Berliner Verkehrsbetriebe. Man muss nur den Anfangs- und Endpunkt einer Strecke eingeben, schon bekommt man eine Übersicht aller möglichen Verbindungen angezeigt, einschließlich sämtlicher Umsteigepunkte, der genauen Abfahrtszeiten aller Verkehrsmittel sowie möglicher Verspätungen und Änderungen der jeweiligen Route.

Die Tücke mit der Potsdamer Straße

Doch selbst ein so benutzerfreundlicher Service hat mich nicht davor bewahrt, in die Falle zu tappen. Ich war nämlich überhaupt nicht darauf gefasst, dass Straßennamen in einer Stadt auch mehrfach vorkommen können. In Berlin soll das bei fünf Prozent aller Straßen der Fall sein, besagt der Blick ins Internet. Die Potsdamer Straße ist eine davon. Sie gibt es in Mitte, aber auch in Lichterfelde. Wer nicht aufpasst und die zugehörige Postleitzahl außer Acht lässt, der braucht gern mal eine ganze Stunde, um einen solchen Irrtum zu korrigieren. Aber wie heißt es so schön bei Puschkin? Erfahrung ist der Sohn schwerwiegender Fehler.

Das Berliner Nahverkehrsnetz hat unter- und oberirdisch alles zu bieten, darunter auch Straßenbahnen. (Foto: Kristina Iljina)

Auf dem S-Bahn-Ring wiede­rum kann man Zeuge einer solchen Szene sein: Alle Fahrgäste springen an einer Station wie auf Kommando auf und verlassen schnellen Schrittes den Waggon. Kurze Zeit später steigen sie wieder ein. Das kann sich mehrere Male wiederholen, weil auf der Anzeigetafel wechselnde Richtungen auftauchen, in die der Zug fahren soll. Das führt dazu, dass sich auf dem Bahnsteig immer mehr unglückselige Passagiere stauen, die dann versuchen, sich in einen ankommenden Zug zu zwängen, der sie dahin bringt, wohin sie eigentlich unterwegs waren. Ich will mir gar nicht vorstellen, was los wäre, wenn auf der Ringlinie der Moskauer Metro ein Zug plötzlich in die andere Richtung fahren würde.

Preiswert nur mit Zeitkarte

Nicht besonders lustig am Nahverkehr in Berlin wie auch in ganz Deutschland sind natürlich die Preise. Wer als Vielfahrer keine Zeitkarte besitzt, der könnte auch gleich von A nach B fliegen und käme trotzdem billiger. Für Schulkinder ist die Nutzung des ÖPNV allerdings vollkommen kostenlos, was sogar die Mitnahme eines Fahrrads einschließt, das ansonsten extra zu bezahlen ist. Aber um ein Schülerticket beantragen zu können, muss man erst einmal zur Schule gehen, was sich einfacher anhört, als es ist, siehe unten. Weiter sind der Schulausweis und ein Passbild hochzuladen, in der stillen Hoffnung, dass zwei Wochen später tatsächlich das Ticket per Post eintrifft. 

Erwachsene können ein 29-Euro-­Monatsabo erwerben, aber diese Aktion läuft zum 1. Mai aus. Dann wird nämlich ein 49-Euro-Abo eingeführt, das nicht nur in Berlin gültig ist, sondern deutschlandweit, und sich auch auf den Regionalverkehr erstreckt. Zweifellos eine gute Nachricht.

Winni Puch mitten in Berlin

Einigermaßen unerwartet kam für mich die Allgegenwart von Graffiti im Verkehrswesen. Komischerweise sind Busse und Straßenbahnen davon nicht betroffen, doch S- und U-Bahn sind es umso mehr. Die Züge selbst, die Stationen und Lärmschutzwände entlang der Strecke sind in allen erdenklichen Formen und Farben bemalt. Einmal war ich richtig gerührt, als ich beim Blick aus dem Fenster Winni Puch entdeckt habe, einen heißgeliebten Trickfilmhelden meiner Kindheit aus der sowjetischen Verfilmung von Winnie-the-Pooh. Solche Überraschungen erlebt man in Berlin.

Wie dieser sowjetische Trickfilmheld in der deutschen Hauptstadt gelandet ist, wäre noch zu klären. (Foto: Uljana Iljina)

Kurz gesagt, am öffentlichen Nahverkehr habe ich hier schon viel Gefallen gefunden. Nun muss ich noch den Kindern beibringen, wie er funktioniert, zunächst auf dem Schulweg zum Gymnasium. Dort werden sie seit dieser Woche unterrichtet. Damit endet ein langes Warten, seit unserer Übersiedlung aus Russland Anfang Dezember haben sie keine Schule mehr besucht. Dass es jetzt mit der Aufnahme geklappt hat, war mit unzähligen Telefonaten und Briefen verbunden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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