„Obdachlosen-Paket“: Vom Triumph der Fertigsuppen in Russland

Sommerzeit ist Reisezeit. Bei vielen auf der Fahrt mit im Gepäck: Fertigsuppen. Sie feiern einen geradezu phänomenalen Siegeszug in Russland. Doch ein fader Beigeschmack bleibt.

Das ältere Ehepaar auf den Plätzen am Fenster deckt alle paar Stunden den Tisch, während der Zug von Murmansk nach Anapa einmal der Länge nach durchs Land schaukelt. Auf den Kreuzworträtseln, die es bereits gelöst hat, werden Tomaten ausgelegt, Gurken geschnitten und gekochte Eier geköpft. Als Nächstes machen sich die beiden daran, sich ihr eigenes Süppchen zu kochen. Das könnte in einem Dritte-Klasse-Wagen problematisch sein, ist es aber nicht. Es braucht dafür nur das heiße Wasser aus dem Zugsamowar, alles andere ist schon indus­triell vorgefertigt. „Doschirak“ steht auf der Packung, die sinnigerweise als Plastikschale mit Deckel daherkommt und so mit Wasser aufgefüllt werden kann, ohne dass andere Gefäße bemüht werden müssten. Im Trockenzustand enthalten ist ein Brikett geringelter Nudeln, die mit einer Gewürzmischung und Grünzeug aus zwei einzelnen Tütchen bestreut werden. Sogar eine Plastikgabel liegt bei. Jetzt muss nur noch ein paar Minuten gewartet und umgerührt werden, dann ist ein Gericht fertig, das Kenner wechselweise als lecker oder widerlich beschreiben. Russland hat der Fast-Food-Snack praktisch im Handstreich genommen.

Für den Hunger zwischendurch: Suppenpackungen der Konkurrenten „Doschirak“ und „Rollton“ im Supermarkt-Regal. © Tino Künzel

Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als in den russischen Überlandzügen. Wo sich noch vor 10 oder 15 Jahren die Tische unter zu Hause vorgekochtem und vorgebratenem Proviant bogen und ein Großteil der Fahrt damit zugebracht wurde, all das Fleisch, die Kartoffeln und Salate genüsslich zu verzehren, regiert heutzutage Einheitskost. Mehrfach am Tag weht der Duft von „Nudeln mit Rindfleisch auf Hausmacherart“ und wie sie alle heißen, die Geschmacksrichtungen aus dem Plastiksuppentopf, durch die Gänge.

Wann genau dieses Instant-Zeitalter begonnen hat, ist schwer zu sagen. Als Erfinder gilt der Japaner Momofuku Ando, der 1958 als Gründer von Nissan Food Products erste derartige Nudelgerichte auf den Markt brachte. Was Russland betrifft, so blickte „Doschirak“ letztes Jahr auf 30 Jahre Geschichte im Lande zurück. Doch so richtig in Schwung kam der russische Markt erst um die Jahrtausendwende. „Doschirak“ wird in zwei Betrieben in der Nähe von Moskau produziert – in Ramenskoje und Rjasan – und exklusiv von Doschirak Rus vertrieben. Alle drei russischen Gesellschaften sind Töchter des südkoreanischen Nahrungsmittelkonzerns Korea Yacult beziehungsweise seiner Auslandsmarke Paldo. Lange Zeit war „Doschirak“ unangefochtener Platzhirsch, wurde jedoch 2014 bei den Absatzzahlen erstmals von „Rollton“ überholt, einem russischen Konkurrenten, 1999 von der Firma Mareven aus der Taufe gehoben, die ihre Geschäfte auch in anderen Nachfolgeländern der Sowjetunion betreibt. Auf der Webseite ist als Kontakt eine Telefonnummer auf Zypern angegeben. Nudeln der Marke „Rollton“ werden an drei Standorten in der Mos­kauer Region – in und um Serpuchow  – hergestellt.

„Doschirak“ und „Rollton“ teilen sich den Markt mehr oder weniger unter sich auf. Im Herbst 2017 lag der Marktanteil von „Doschirak“ dem Marktforschungsunternehmen Nielsen zufolge bei 31 Prozent, der von „Rollton“ bei 45 Prozent.

Klassische Käuferschichten sind Studenten, Billigarbeiter und Zugreisende. Aber auch auf der Datscha, beim Picknick, im Büro und nach ausschweifenden Feiern wird gern nach dem schnellen Happen gegriffen, der im Volksmund „Obdachlosen-Paket“ heißt. Nur: Wie konnte das  eigentlich passieren? Den Amerikanern, die Fast Food zur Perfektion getrieben haben, würde man jederzeit zutrauen, den Hunger mit derartiger Flüssignahrung zu betäuben. Aber den Russen? Ein halbes Jahr schuften sie jedes Wochenende auf der Datscha, um das andere halbe Jahr vom Geernteten zu leben. Sie sind begeisterte Jäger und Sammler, harren als Eisangler im tiefsten Winter stundenlang auf ihrer Scholle aus, schwören auf Honig und Kräuter. Und dann verfallen sie massenhaft einem Produkt, an dem das Natürlichste vermutlich das Wasser ist, das ihnen im Munde zusammenläuft? Die Erklärung dürfte eine Kombina­tion aus mehreren Faktoren sein. Die Nudelpackungen sind praktisch, haltbar, leicht (90 Gramm), man braucht keine Küchentalente, um sie zuzubereiten, und außer Wasser keine sonstigen Zutaten, die besorgt werden müssen. Man muss hinterher nicht abwaschen und macht sich noch nicht mal die Finger schmutzig. Der Trumpf ist natürlich der Preis: Wo bekommt man schon für umgerechnet einen halben Euro eine ganze Mahlzeit – oder zumindest Zwischenmahlzeit?

Dass „Doschirak“ & Co. als Sattmacher gar nicht so schlecht sind, werden auch Kritiker einräumen. Ansonsten finden die Billigheimer aber längst nicht bei allen Gefallen. Ihr Ruf lässt sich vielleicht mit McDonald‘s vergleichen. Während die einen bedenkenlos die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben, sind die anderen ebenso entschieden gegen diese „blanke Chemie“. Ein Freund raunt am Telefon verschwörerisch: „Du willst über Fertigsuppen schreiben? Dann google mal nach Mononatriumglutamat.“ Der Geschmacksverstärker, auf dem Etikett mit E621 bezeichnet, macht die Speisen überhaupt erst genießbar, gilt vielen aber als größter Übeltäter unter den zahlreichen Zusatzstoffen. Verantwortlich gemacht wird er unter anderem für einen Gewöhnungseffekt, wie man ihn auch von Chips kennt, von denen man auch nicht lassen kann, bis die Tüte leer ist. Die russischen Behörden halten E621 dabei für ebenso unbedenklich wie beispielsweise die EU. Ärzte warnen eher vor dem hohen Salzgehalt und seinen Auswirkungen auf Blutdruck und Verdauungstrakt. Nahrhaft ist diese Nahrung jedenfalls nicht.

Am Suppenkult dürfte das nichts ändern. Als der Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj im vorigen Jahr dabei fotografiert wurde, wie er am Rande einer Konferenz „Doschirak“ schlürfte, war das nach seinen Angaben das meistkommentierte Bild seines gesamten Wahlkampfs. Er habe in der Ordnungshaft mit den Nudeln Bekanntschaft geschlossen, sagte Nawalnyj. Häufig essen sollte man das Zeug lieber nicht, legte er nach. Geschmeckt habe es ihm aber trotzdem.

Tino Künzel

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