Tod auf Rädern: Warum die Statistik verheerend ist und gleichzeitig Hoffnung macht

Jedes Jahr verliert Russland bei Verkehrsunfällen im Schnitt die Bevölkerung einer Kleinstadt. Zwei tödliche Unfälle in Moskau und Woronesch haben die Verkehrssicherheit zuletzt wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewusstseins gerückt.

Blumen, die eine Unfallstelle markieren: Auf und an Russlands Straßen nehmen vergleichbar viele Fahrten einen tödlichen Ausgang. (Foto: Tino Künzel)

Michail Jefremow ist es gewohnt, im Rampenlicht zu stehen. Das gehört zum Geschäft und zeugt davon, gefragt zu sein. Als der beliebte Film- und Theaterschauspieler Mitte Juni zum bisher letzten Mal vor eine Kamera trat, lieferte er einen routinierten Auftritt ab. Nur was er zu sagen hatte, war alles andere als Routine. In Pantoffeln auf einem Stuhl bei sich zu Hause sitzend und nervös die Hände knetend, hob der 56-Jährige zu einer Selbstanklage an, nachdem er vier Tage zuvor mitten in Moskau einen folgenschweren Verkehrsunfall verursacht hatte. In dem knapp zweiminütigen Video, das auf YouTube hochgeladen wurde, erklärt er sich für erledigt. „Das ist das Ende. Es gibt keinen Jefremow mehr.“ Er habe alle verraten, nun wisse er nicht, wie er überhaupt weiterleben solle. „Bloß gut, dass meine Mutter das nicht mehr mit ansehen muss.“

Am 8. Juni, „diesem verfluchten Montag“, war der Künstler kurz vor zehn Uhr abends mit 2,1 Promille im Blut in seinen Jeep Grand Cherokee gestiegen und hatte auf dem Moskauer Gartenring begeben. Dort, wo die zehnspurige Straße auf Höhe des Arbat, zu Füßen des russischen Außenministeriums, eine leichte Rechtsbiegung macht, raste er geradeaus in den Gegenverkehr, wo sein Wagen frontal mit einem Lada-Kleintransporter kollidierte. Dessen Fahrer, der für einen Lieferservice arbeitete, erlag noch in der Nacht seinen Verletzungen.   

Augenzeugen filmten Jefremow am Unfallort, wie er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Das war freilich keine Folge des Zusammenpralls, sondern des Rauschs, der dazu geführt hatte. Auf Fragen suchte er zumindest nicht nach Ausflüchten: „Meine Schuld“, lallte er. Und auch später schonte er sich nicht, nannte es „unverzeihlich“, sich in betrunkenem Zustand ans Steuer zu setzen. Dafür, die Dinge beim Namen zu nennen, hat man ihn in Russland geschätzt, wenn er die Zustände in Politik und Gesellschaft aufs Korn nahm. Jetzt möchte man um nichts in der Welt in seiner Haut stecken. Aber die wichtigste Frage ist: Wie viele stecken wohl in seiner Haut?

Denn während Jefremow nun eine Haftstrafe von bis zu zwölf Jahren droht und er unter Hausarrest gestellt wurde, ließ das Drama die Öffentlichkeit nicht nur entsetzt zurück, sondern löste auch eine breite Diskussion aus. So sagte etwa die prominente Anwältin Violetta Wolkowa, solche Unfälle seien die Quittung dafür, dass Fahren unter Alkoholeinfluss allgemein als Kavaliersdelikt gelte. Und weil nur einen Tag nach Jefremow der Polizist Wladimir Schejkin in Woronesch nach einem Ausweichmanöver mit überhöhter Geschwindigkeit die Kontrolle über seinen schlingernden Toyota verlor, von der Fahrbahn abkam und vor einem Supermarkt mehrere Fußgänger rammte, von denen einer sofort tot war, muss man sich fragen, wie es überhaupt um die Verkehrssicherheit in Russland bestellt ist.

Fünfmal so viele Verkehrstote wie in Deutschland

Die kurze Antwort darauf lautet: schlecht. Die etwas längere: noch immer schlecht, aber sehr viel besser als noch vor wenigen Jahren. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Deutschland, das einen ähnlich großen Pkw-Bestand aufweist. Nach amtlichen Angaben starben 2019 auf Russlands Straßen 16.981 Menschen. Deutschland meldete 3059 Verkehrstote, also weniger als ein Fünftel! Das könnte zu der Annahme verleiten, dass auf Russlands Straßen Wildwest herrscht, doch das wäre ein Trugschluss. Denn die Zahl der polizeilich erfassten Unfälle mit Personenschaden ist in Deutschland fast doppelt so hoch, genauso wie die Zahl der Verletzten. Wenn es also in Russland seltener kracht, dabei jedoch mehr Menschenleben zu beklagen sind, dann deutet das darauf hin, dass nicht so sehr das Fahrverhalten oder die Verkehrsinfrastruktur für die gravierenden Konsequenzen verantwortlich sind, sondern Autos mit geringerem Sicherheitsstandard gefahren werden und die medizinische Versorgung im Notfall zu wünschen übrig lässt.  

Die Zahl der Verkehrstoten ist in Russland dabei zwar weiter sehr hoch, aber stark rückläufig. Allein in den vergangenen fünf Jahren sank sie nach Angaben der Verkehrspolizei (GAI) um ein Viertel. Das bedeutet, dass auf den russischen Straßen pro Tag 17 Menschen weniger Opfer eines Unfalls werden. Bis 2024 will Russland bei den Verkehrstoten je eine Million Einwohner sogar auf dem heutigen Stand von Deutschland sein, so steht es im nationalen Projekt „Sichere und hochwertige Straßen“.

Einstellung zum Alkohol ändert sich

Und der Alkohol? Einem Land, in dem der Wodka angeblich in Strömen fließt, traut man ohne Weiteres zu, dass Jefremow kein Einzelfall ist. Von der Statistik wird das auch belegt. Während in Deutschland bei 7,5 Prozent aller tödlichen Unfälle Alkohol im Spiel ist, sind es in Russland sage und schreibe 25 Prozent! Ob aus dieser bitteren Wahrheit folgt, dass das Problem nicht ernst genug genommen wird, mag eine Sache der persönlichen Erfahrung sein. Der Gesetzgeber hat jedenfalls eine Null-Promille-Grenze festgelegt und verschärft immer mal wieder die Strafen für Verstöße.

Ein Autofahrer aus der Region Kostroma sagte der MDZ, er sei vor einiger Zeit angetrunken in eine Verkehrskontrolle geraten, das habe ihn 30.000 Rubel (375 Euro) gekostet – ein durchschnittliches Monatsgehalt in seiner Region – und den Verlust des Führerscheins für 1,5 Jahre. Doch nicht nur der Staat gehe gegen Trunkenheit am Steuer vor, auch die Einstellung in der Gesellschaft ändere sich allmählich. Einmal habe er sogar mit eigenen Augen gesehen, wie ein Betrunkener, der sich in sein Auto setzte, von Passanten wieder herausgezerrt wurde, bevor er Schaden anrichten konnte.

Der Alkoholkonsum in verschiedenen Ländern nach einem OECD-Bericht aus dem vergangenen Jahr

Das ändert nichts daran, dass die Opferbilanz nach wie vor verheerend ist. Doch es lohnt sich, die Zahlen im Zusammenhang zu sehen. So wie auch beim Alkoholkonsum generell. Trotz aller Klischees ist Russland längt nicht (mehr) die Trinkernation Nummer eins. Eine Statistik der OECD von 2019 zeigt zudem, dass in keinem Land der Welt der Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol pro Jahr im Zeitraum von 2007 bis 2017 so stark gesunken ist wie in Russland, nämlich von 18 auf 11,1 Liter.

Bei Michail Jefremow muss die Kurve etwas anderes verlaufen sein. Dass er beim Alkohol ab und zu jedes Maß verlor, war weithin bekannt. Der Gesundheit dürfte das kaum zuträglich gewesen sein. Doch indem er betrunken Auto fuhr, hat er den Preis nun bis zum Anschlag nach oben geschraubt. „Vergebt mir bitte, mehr bleibt mir nicht zu sagen“, das sind die letzten Worte im Video eines gefeierten Darstellers, der im falschen Film landete.

Tino Künzel 

Und hier ein Beitrag der MDZ von 2016 zum Thema – mit Stimmen von in Russland lebenden Deutschen: http://www.old.mdz-moskau.eu/opferstatistik-im-strassenverkehr-alarmiert-putin/

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