Herr Meister, bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2012 holte Wladimir Putin 71,3 Prozent. Wie viel geben Sie ihm diesmal?
Mit oder ohne Manipulation?
Im amtlichen Wahlergebnis.
Ich wäre skeptisch, dass er wieder 70 Prozent erreicht. Wenn es 60plus sind, läuft es gut. Und da ist eine gewisse Form von Manipulation schon dabei. Man muss ja allein schon die Leute motivieren, überhaupt an die Wahlurne zu gehen.
Vorentschieden ist die Wahl trotzdem?
Davon gehe ich aus. Da kann eigentlich nichts anbrennen. Man sollte sich ja nichts vormachen: Putin würde auch in einer „realen“ Wahl gewählt. Selbst wenn Alexej Nawalnyj teilnehmen könnte.
Vor sechs Jahren war die Anspannung im Vorfeld viel größer. Wie erklären Sie sich das?
Damals hat Putin das Amt wieder von Medwedew übernommen. Dieser abgesprochene Wechsel kam bei vielen Wählern nicht gut an. Das spiegelte sich in der Stimmung wider. Auch die Umfragewerte für Putin waren damals schlechter, da viele Russen Veränderung wollten. Heute hält sich die Demonstrationsbereitschaft in Grenzen. Der Kreml hat alles auch noch einmal besser unter Kontrolle gebracht: die Medien, die NGOs, den Wahlablauf, die Wahlbeobachtung. Man ist sechs Jahre weiter, was die Durchführung so einer Wahl betrifft. Die Präsidialadministration ist da sehr routiniert. Man wird also keine großen Überraschungen erleben.
Kritiker sagen, Einfluss auf den Ausgang der Wahl werde heute weniger durch am Wahltag genommen, sondern vor allem im Vorhinein, durch hohe Hürden für die Teilnahme und Auslese der Kandidaten.
Ja, der Wahlprozess selbst ist sehr professionell und technisch gut organisiert, er entspricht durchaus auch internationalen Standards. Anders sieht es bei Chancengleichheit, echtem Wettbewerb, Zulassung von Kandidaten und deren Zugang zu den Medien aus. Entscheidend ist tatsächlich das Vorher, aber auch das Danach, nämlich die Auszählung, bei der immer noch etwas passieren kann. Selbst auf dem Weg der Wahlergebnisse vom Wahllokal zur Wahlkommission.
Wenn Putin ohnehin gewinnt, warum dann überhaupt dieser ganze Aufwand?
Wahlen bedeuten immer Stress für autoritäre Systeme. Einerseits will man ja trotzdem den Anschein wahren, dass die Menschen wählen können. Andererseits ist der Wunsch da, alles zu kontrollieren, selbst wenn die Verhältnisse klar erscheinen. Denn da ist diese kleine Unbekannte, die ja vielleicht doch eintritt. So wie 2011 nach den Dumawahlen. Da hatte man auch nicht damit gerechnet, dass das so eine Wucht und Dynamik erreicht. Und in diesem Spannungsfeld spielt sich vieles ab. Putin will ja nicht nur 50 oder 51 Prozent. Wenn alles auf einen „nationalen Leader“ angelegt ist, dann braucht man höhere Zustimmungswerte als in Demokratien. Weil der Stellenwert des „Leaders“ für das System viel größer ist als beispielsweise der einer Bundeskanzlerin.
Welche Möglichkeiten haben Unzufriedene, sich im Zuge der Wahl zu artikulieren?
Sie können nicht wählen oder falsch wählen, also eine ungültige Stimme abgeben. Ich sehe nicht, dass sie einen Kandidaten haben, der eine Alternative zu Putin wäre. Sobtschak ist nicht wirklich unabhängig. Alle anderen sind es auch nicht. Ich denke, viele werden zu Hause bleiben.
Warum ist Xenia Sobtschak, die den Kreml scharf kritisiert und als „Kandidatin gegen alle“ mit liberalen Forderungen auf Stimmenfang geht, keine Alternative?
Ihre Aufgabe ist es, vor allem liberale Wähler und junge Leute an die Wahlurne zu bringen. Denn die größte Befürchtung ist, dass die Wahlbeteiligung gering ausfällt. Viele durchschauen, dass es genau darum geht. Eine Massenbewegung wird das auf jeden Fall nicht.
Sobtschak als Oppositionelle ist in Wirklichkeit ein Projekt des Kremls? Der Vorwurf wird oft erhoben und von ihr genauso oft bestritten.
Das ist natürlich meine Interpretation. Aber sie basiert auf Gesprächen mit russischen Kollegen, auf dem Timing ihrer Kandidatur, auf den Möglichkeiten, die Sobtschak eingeräumt werden. Wenn man aus dem Nichts Zugang zu den großen Fernsehstationen bekommt und öffentlich auftreten darf, dann muss das vom Kreml gewollt sein. Nawalnyj hatte diese Möglichkeiten nicht.
Wie schätzen Sie das Wählerpotenzial von Nawalnyj als Vertreter des liberalen Spektrums ein?
Er ist ja kein Liberaler, sondern ein Nationalist und russischer Patriot. Deshalb liegt sein Potenzial auch nicht bei den üblichen ein bis zwei Prozent für Liberale, sondern bei acht, zehn oder sogar zwölf Prozent. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass er ja noch nicht mal im Fernsehen Wahlkampf machen durfte. Putin und Medwedew vermeiden es, überhaupt seinen Namen in den Mund zu nehmen. Er wird von offizieller Seite praktisch ignoriert. Bei gleichberechtigtem Zugang zu den Medien wären sogar bis zu 15 Prozent drin.
Wie erklären Sie sich unter diesen Umständen, dass er für Teile der Bevölkerung ein solcher Hoffnungsträger ist und speziell bei jungen Leuten dermaßen gut ankommt? Seine Wahlkampfveranstaltungen in den Regionen stießen auf erhebliche Resonanz, er hat jede Menge Unterstützung, Freiwillige und Protest mobilisiert. Zeigt sich da die Bedeutung der sozialen Medien? Oder ist der Frust in Russland viel größer, als man gemeinhin annimmt?
Nawalnyj ist ein neuer Typ von Politiker, wie ihn Russland noch nicht kannte. Und mit ihm hat seit Jahren endlich mal wieder jemand echten Wahlkampf geführt und für Kontroversen gesorgt. Er ist begabt im Umgang mit sozialen Medien, er strahlt positive Energie aus. Speziell junge Leute sind von ihm begeistert. Bei denen genießt er Kultstatus. Man braucht ja nur die leuchtenden Augen zu sehen, wenn er irgendwohin kommt. Das sind Events, das sind Happenings. Ich würde diese Resonanz eher der Motivationsfähigkeit Nawalnyjs zuschreiben als dem Frustrationspotenzial unter Putin.
Nun hat Nawalnyj zu einem „Wählerstreik“ aufgerufen, also zum Boykott. Könnte das Wirkung hinterlassen, indem die Wahlbeteiligung sichtlich zusammenschrumpft?
Ich glaube das nicht. Die Klientel von Nawalnyj sind zum Großteil junge Leute, die bisher ohnehin nicht zur Wahl gegangen sind. Er erreicht nicht die breite Masse auf dem Land oder in den kleineren und mittleren Städten.
Das Interview führte Tino Künzel.