“Stalinsuppe!”, riefen sie begeistert

Angela Rohr ist eine Ausnahmeautorin. Ihre Gulag-Geschichten aber mussten erst wiederentdeckt werden

Angela Rohrs Roman „Lager“ ist ein halbes Jahrhundert nach Fertigstellung erstmals im Original erschienen. Die Herausgeberin Gesine Bey war nur zufällig auf die Schriftstellerin gestoßen, die 15 Jahre im Gulag verbracht und unter verschiedenen Namen gelebt und gearbeitet hatte.

Rohr Angela vor einer Forschungsreise nach Sibirien, 1927 / Privatarchiv Hans Marte, Wien

Rohr Angela vor einer Forschungsreise nach Sibirien, 1927 / Privatarchiv Hans Marte, Wien

Sonja Vogel

Als Bertolt Brecht 1935 auf dem Weg ins amerikanische Exil war, machte er Halt in Moskau. An Grippe erkrankt, pflegte ihn eine deutsche Genossin gesund: Angela Rohr. Den Dramatiker scheint die Begegnung nachhaltig geprägt zu haben. Denn im Mai 1941 bat er in einem Brief den russischen Schriftsteller und späteren Vorsitzenden des sowjetischen Schriftstellerverbands, Konstantin Fedin, eindringlich: „Bitte, helfen Sie Angela Rohr.“
Als Brecht den Brief geschrieben hatte, war es allerdings schon zu spät. Angela Rohr war bereits wenig später als Spionin verhaftet worden und verbrachte die nächsten 15 Jahre im sibirischen Gulag und in der Verbannung. Vom Gefängnis in Saratow ging es in die Lager von Nischni Tagil und Tawda.

Gesine Bey kennt Bertolt Brechts Brief gut. Die Germanistin war darauf gestoßen, als sie 2005 mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der russischen Stadt Saratow an der Wolga, dem Geburtsort Konstantin Fedins, in dessen Nachlass stöberte. Eigentlich suchte sie einen anderen Brief von Brecht. Nicht nur ihn hatte Rohr beeindruckt, auch Konstantin Fedin, der den Brief sein Leben lang aufgehoben hatte. Und auch Gesine Bey ließ der Brief nicht mehr los. „Ich musste wissen, wer diese Angela Rohr war“, sagt Bey. Sie suchte in Nachlässen und Archiven – doch sie fand nichts.

Erst nach und nach setzte sich eine ziemlich ungewöhnliche Geschichte einer Frau mit vielen Identitäten zusammen.

Viele Jahre gab es keine Spur von Angela Rohr

Einige Jahre recherchierte Gesine Bey. Im Russischen Archiv für Literatur und Kunst schließlich stieß sie endlich im Verzeichnis auf Angela Rohr. „Da wurde ich sofort fündig“, erinnert sich Bey. Zwei Erzählungen waren dort hinterlegt:  „Der Vogel“ und „Die Zeit“. Beides sind Geschichten aus dem Lager.

Angela Rohr wurde 1890 im mährischen Znaim geboren, studierte am Berliner Psychoanalytischen Institut und ging 1926 als Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ mit ihrem Mann Wilhelm Rohr, einem KP-Mitglied, nach Moskau. Sie hatte viele Gesichter, war eine frühe Bohemienne des 20. Jahrhunderts. Überlebende des Gulag. Eine große Literatin. Kommunistin. Eine Freundin von Rilke. Schülerin des Psychoanalytikers Karl Abraham. Journalistin, Expressionistin und Dadaistin.

Rohr hat viele schriftliche Zeugnisse hinterlassen, in einschlägigen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen und war ihren Zeitgenossen bekannt. Warum sie trotzdem in Vergessenheit geriet? Angela Rohr hatte schlicht viele verschiedene Identitäten, führte verschiedene Leben: Die junge Ärztin, die sich um Brecht kümmerte, war dieselbe Person wie die Moskau-Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ Angela Ror, identisch mit der Dadaistin Angela Guttmann, mit Angela Hubermann, der expressionistischen Autorin der Zeitschrift „Die Aktion“, mit Angela Müllner, Angelina Rohr und Helena Golnipa.

Acht verschiedene Namen trug sie

Acht verschiedene Namen trug Rohr: Pseudonyme, Künstlernamen aber auch die Namen ihrer drei verschiedenen Ehemänner. Das machte sie in den Archiven quasi unauffindbar. In den Nachlässen ihrer unzähligen großen Bekannten, bei Brecht, Rilke, Hugo Ball oder Sigmund Freud, taucht sie zwar auf, aber immer unter einem anderen Namen. Es dauerte Jahrzehnte, diese einzelnen Stränge zusammenzubringen.

Angela Rohr war gut im Fährten legen. Sie inszenierte eine Art Schnitzeljagd, die auch Gesine Bey jahrelang beschäftigt hat. Als frühe dadaistische Autorin könnte sie das durchaus so gewollt haben. Bey hält das zumindest für möglich. „Sie hat auch die Manuskripte bei Leuten hinterlegt, von denen sie wusste, dass sie einmal einen Nachlass haben würden“, sagt sie.

Einige davon, Erzählungen und Reportagen, hatte Gesine Bey 2010 unter dem Titel „Der Vogel“ herausgegeben. Zum Jahreswechsel erschien nun im Aufbau Verlag das Buch „Lager“, eine Neuherausgabe nach dem Manuskript. Rohr hatte die lange Erzählung geschrieben, nachdem sie 1958 mit 67 Jahren „rehabilitiert“ nach Moskau zurückgekehrt war. Das Schreiben war ihre Art, das Erlittene zu verarbeiten. Die Veröffentlichung konnte die Autorin leider nicht mehr miterleben, sie starb 1985 in Moskau.

Eine vertane Chance, die Literatin zu entdecken

Angela Rohr: "Lager". Aufbau Verlag Berlin, 446 Seiten / Aufbau Verlag

Angela Rohr: „Lager“. Aufbau Verlag Berlin, 446 Seiten / Aufbau Verlag

Eine Neuherausgabe ist „Lager“ deshalb, weil die Erzählung bereits 1989 in einer bearbeiteten Version gedruckt worden war, in einer Textsammlung, die Rohr zusammengestellt hatte. Erschienen ist es unter einem posthumen Pseudonym. „Helene Golnipa: Im Angesicht der Todesengel Stalins“ steht auf dem Cover. Ein ziemlich reißerischer Titel. Warum ein posthumes Pseudonym? „Vielleicht gab das Pseudonym dem Buch etwas Geheimnisvolles“, mutmaßt Bey. Verstehen kann sie es aber nicht. Schließlich war damals noch einmal die Chance vertan worden, eine große Schriftstellerin zu entdecken. Aber die Herangehensweise war eine andere. „Die 300 Seiten des Manuskripts galten damals noch als Sachtext, nicht als Literatur“, sagt Bey. Und einen Sachtext kann man großzügig verändern.

Die Germanistin erinnert sich noch gut an die ersten Eindrücke der Lektüre des unbearbeiteten Originals. „Ich war erschüttert von den Erzählungen“, sagt Bey. „Mir hat es den Atem genommen.“ Und bis heute hat Rohrs Literatur an Wirkung nichts verloren. Angela Rohr hat eine besondere, eine brutale Prosa entwickelt, die von der genauen Beobachtung lebt, von unerbittlicher Schärfe und Witz.

Als Ärztin war sie mit einer Welt jenseits des Vorstellbaren konfrontiert: Schmutz, Hunger, Kälte, Enge und ihre Auswirkungen auf den Menschen. Aber Rohr hatte auch das System als Ganzes im Blick, da sie mit den Lagerleitungen kommunizieren musste. Trotzdem sind ihre Texte auf eine verstörende Art verspielt. „Lager“ ist sehr ironisch. Aber die Autorin macht sich nie lustig, ihr literarischer Blick ist unbarmherzig gegenüber den Zuständen, aber immer mit Empathie für die Menschen – für jene, die dazu gebracht wurden, für eine faulige Kartoffel zu morden, für die bis zur Unkenntlichkeit Verschmutzten und Totkranken.

Ein Blick für die Absurditäten

Als surrealistische Autorin hat Rohr sich einen Blick für die Absurditäten erhalten: Zwischen sachlichen Passagen stehen die unglaublichsten und komischsten Dialoge. Manchmal bleibt von der Lagerhölle nur noch ein groteskes Theater übrig. Vielleicht ist es das, was Rohrs Literatur so fesselnd macht: die klaffende Lücke zwischen dem warmen, dem witzelnden Ton und dem unvorstellbaren Horror.

„Man starb, aber man wollte nicht sterben, nur wählte man nicht den richtigen Weg dazu, um diesem Tod zu entgehen, von dem man glaubte, daß er nur einen Namen trage und Hunger heiße“, heißt es zum Beispiel in „Lager“. In einer Szene beschreibt Rohr, wie sie Kleidung von Soldaten zerkleinern muss, wie sich Wolken aus trockenem Staub auf die Schleimhäute legen. Erst spät begreift sie, woher sie kommen: Es ist das getrocknete Blut der durchtränkten Hosen und Jacken. Ein andermal erzählt sie, wie sie „ihren“ Kranken eine nahrhaftere Suppe erbettelt hat. „Stalinsuppe!“, riefen die Halbtoten begeistert, als sie ausgeteilt wurde. Aber als Rohr dieses Lob voll Dankbarkeit an die Lagerverwaltung weitergibt, wird die fuchsteufelswild. Man vermutet hinter dem ehrlichen Jubelruf ketzerische Ironie. Das war dann auch die letzte dicke Suppe. Die Szene ist trotz der Tragik furchtbar lustig – und enttarnt mit der mehrfach gebrochenen Ironie der Beschreibung die perverse Manipulation des Stalin-Systems, vor der niemand sicher war.

Sehr späte Anerkennung als Autorin

Es ist erstaunlich, dass Angela Rohr erst mit „Lager“ einer größeren Leserschaft bekannt geworden ist. Aber vielleicht war früher noch nicht die Zeit dafür. Ein neues Interesse an der Literatur von Gulag-Überlebenden erwacht gerade erst – in Russland genauso wie in Deutschland, wo Stück für Stück die Werkausgabe von Warlam Schalamow erscheint. Auch Schalamow, lange lediglich als Zeitzeuge gesehen, wird nun als Autor der europäischen Moderne rezipiert. In dieser Reihe ist auch Rohr zu sehen – mit anderen Frauen wie Margarete Buber-Neumann, Susanne Leonhard oder Jewgenia Ginsburg.

Dennoch findet Gesine Bey, man solle nicht zwanghaft vergleichen. „Rohr hat es geschafft, das Lagersystem in ein literarisches Kon-strukt zu bringen. Von sich erzählt sie nicht viel, aber man erfährt unglaublich viel über die Anderen“, sagt Bey. Als Ärztin, die ohne Medikamente die Kranken beim Sterben betreute, hatte sie einen speziellen Blick auf die Hölle. Man erkennt etwas vom Wesen des Lagers in dieser Literatur. „Das haben nicht viele geschafft“, sagt Gesine Bey.

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