Eine Stadt, die süchtig macht

In Leningrad geboren, hat German Moyzhes sein halbes Leben in Deutschland verbracht. Doch nun ist zurück in seiner Heimatstadt. In der MDZ spricht er über „sein“ St. Petersburg und seine fünf Lieblingsorte in der Stadt.

Das Russische Museum in St. Petersburg und das Puschkin-Denkmal auf dem Platz der Künste davor (Foto: Tino Künzel)

Deutschland hat es gut gemeint mit German Moyzhes. Es nahm ihn und seine Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge auf. Für den damals Zehnjährigen aus St. Petersburg war es ein „Wunderland“, in das er an einem Dezembertag 1995 mit seiner Mutter und Großmutter übersiedelte. Schon nach einem Jahr konnte er Deutsch, was ihm die Türen zum Gymnasium öffnete. Er studierte, gründete mit 23 seine erste Firma. Seine Mutter lebt bis heute in Frechen bei Köln, wo auch die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft ihren Sitz hat, deren Geschäftsführer er ist. Eine Erfolgsgeschichte.

Das „Wunderland“ enttäuschte Moyzhes nicht, es hatte nur einen Makel: Es war nicht St. Petersburg. Schon als Jugendlicher zog es ihn in die alte Heimat zurück, erst in den Sommerferien, dann auch im Winter und später immer öfter. Vor zwölf Jahren erblickte seine Tochter in St. Petersburg das Licht der Welt – ein Grund mehr, möglichst viel Zeit in der Stadt an der Newa zu verbringen. Moyzhes pendelte zwischen Deutschland und Russland hin und her, bis er es satt hatte und eine Entscheidung traf: Seit zwei Jahren lebt er wieder in St. Petersburg.

Eine fertige Antwort auf die Frage, was es wohl war, das ihn all die Jahre nie losgelassen hat, hat der Heimgekehrte nicht. „Man kann das nicht erklären“, sagt er und versucht es doch. Es sei eben eine „Sucht“: Die Kindheit in St. Petersburg, die Menschen um ihn herum, gute Menschen, das habe ihn geprägt. Und dann die Kultur. Er sei von Kindesbeinen an viel in Museen gewesen, seine Großmutter habe ihn in die Philharmonie mitgenommen. Die Datscha am Peipussee im äußersten Nordwesten von Russland an der Grenze zu Estland, für ihn „ein Stück heile Welt“, würde er „nie gegen eine Schweizer Berghütte eintauschen“. Auch St. Petersburg sei „wunderschön“, trotz all der Dinge, die dort im Argen lägen. Und die Mentalität sei ihm vielleicht doch näher: „Ich komme mit Deutschen gut zurecht, aber mit Russen noch besser.“


Zur Person: German Moyzhes

Bei der jährlich abgehaltenen „Woche Deutschlands“ in St. Petersburg: German Moyzhes (links) und der ehemalige ARD-Studioleiter in Moskau Thomas Roth. Beide sind auch im Kölner Lew Kopelew Forum aktiv. (Foto: Privat)

In die letzten Jahre der Sowjetunion hineingeboren, kam German Moyzhes 1985 in Leningrad zur Welt. Als Kind wanderte er mit seiner Familie nach Deutschland aus. Etwas mehr als 20 Jahre später kehrte er endgültig zurück, kaufte sich eine Wohnung in einem ehemaligen Mietshaus, die er umbaute und die heute auch ein kultureller Treffpunkt ist. „Ich bin glücklich mit dem, was ich habe“, sagt der Unternehmer. Noch glücklicher wäre er, wenn sich St. Petersburg zu einer bürgerfreundlicheren Stadt verändern würde. Und die Entwicklung in Russland als Ganzem bereitet Moyzhes die „meiste Sorge“.

In seiner Heimatstadt ist er gerade dabei, die Gründung eines Radvereins vorzubereiten, der sich dafür einsetzt, die Infrastruktur für Radfahrer zu verbessern. „Vereine, in denen die Mitglieder alles entscheiden – so etwas kennt man hier ja gar nicht.“ Deshalb sei das Vorhaben nicht nur ein Rad-, sondern auch ein Demokratieprojekt.


Blick über die St. Petersburger Innenstadt mit den Türmen der Admiralität und der Peter-und-Paul-Festung (Foto: Tino Künzel)

Wie soll sich nun der Besucher dieser Stadt nähern, um zu verstehen, wie sie tickt? Moyzhes hat da einige Tipps: „Man sollte die Höfe von innen gesehen haben. Man sollte natürlich mit der Metro fahren und nicht mit dem Reisebus oder dem Taxi. Man sollte mal in einer der alten und leider immer weniger werdenden Stolowajas gewesen sein. Man sollte sich am Witebsker oder einem anderen Bahnhof in die S-Bahn setzen und aus der Stadt rausfahren. Man sollte sich nicht mit der Unterbringung im Hotel begnügen, sondern sich auch dafür interessieren, wie die Einheimischen wohnen, zum Beispiel bei einer Führung in einer Kommunalka. Man sollte sich auch mal in die Plattenbaugebiete begeben, die ihre eigene Schönheit haben, wenngleich sie sehr tief liegt.“

Natürlich kann man auch die Lieblingsorte von German Moyzhes besuchen. Sie befinden sich fast alle vor der Haustür seiner Wohnung an der Fontanka.

Kolomna

In Kolomna sind viele Werftarbeiter zu Hause, aber auch Künstler. (Foto: Tino Künzel)

Ein zentral gelegener alter Stadtbezirk an der Admiralitäts-Werft, der definitiv keine Touristenhochburg ist. Traditionell ein Arbeiter- und Künstlerviertel. Eine Studie hat gezeigt, dass das auch heute so ist und die Einwohnerstruktur weniger Veränderungen unterworfen ist als anderswo. Streng genommen wird der Bezirk von der Fontanka, Moika, Newa und dem Krjukow-Kanal eingerahmt und ist deshalb eine Insel. Oft werden aber auch umliegende Gebiete mit dazugezählt und damit Sehenswürdigkeiten wie das Mariinskij-Theater. Das Viertel zählt 20 Brücken und wird damit St. Petersburgs Ruf als „Venedig des Nordens“ vollauf gerecht. Moyzhes: „Ich liebe diese Ecke. Sie hat ihre eigene Romantik.“

Philharmonie

Einer der berühmtesten Konzertsäle von St. Petersburg: die Philharmonie (Foto: Tino Künzel)

Die Schostakowitsch-Philharmonie am Newskij-Prospekt (Kleiner Saal) beziehungsweise in einer seiner Nebenstraßen (Großer Saal) ist für Moyzhes die bessere Wahl als das Mariinskij-Theater, weil authentischer, weniger touristisch und nicht so teuer. „Dort trifft man eher die Einheimischen. Wenn ich in die Philharmonie gehe, sehe ich ein Dutzend bekannte Gesichter.“ Manchmal gehe es regelrecht familiär zu. So habe sich bei einem Konzertabend einmal der Dirigent, genauer gesagt der Chefdirigent Jurij Temirkanow, zum Publikum umgedreht und etwas erklärt. „Man kennt sich eben und dann kann der Dirigent auch mal etwas erzählen“, so Moyzhes.

Achmatowa-Museum

Anna Achmatowa (1889-1966) liebte St. Petersburg und St. Petersburg liebt seine Anna Achmatowa. In ihrem früheren Wohnhaus hat man ihr ein Museum gewidmet. Bereits der Eingang durch einen Torbogen ist nicht zu übersehen. (Foto: Tino Künzel)

Die Dichterin und Schriftstellerin Anna Achmatowa lebte mit Unterbrechung von 1924 bis 1952 in einem Hausflügel des Scheremetew-Palasts an der Fontanka. Dort befindet sich heute ein Museum. Der Eingang erfolgt durch einen Torbogen am Litejnyj-Prospekt. Moyzhes schätzt auch den Garten sehr, durch man von dort als Erstes kommt und wo ständig Ausstellungen und Konzerte stattfinden.

Nikolaus-Marine-Kathedrale

Die Nikolaus-Marine-Kathedrale gehört zu den malerischsten Kirchenbauten von St. Petersburg. (Foto: Tino Künzel)

Die blau-weiße, zweistöckige Barockkirche aus dem 18. Jahrhundert, eingebettet in eine Grünanlage, wurde selbst zu Sowjetzeiten nicht geschlossen. In dem Gotteshaus wird auf den Meeren umgekommenen Seeleuten gedacht. Auch die Totenmesse für Anna Achmatowa wurde hier abgehalten. Die Kirche sei „nicht so prächtig, aber auch nicht so überlaufen wie die Isaakskathedrale“, sagt Moyzhes.

Große Choral-Synagoge

Steht außer samstags auch Besuchern offen: die Große Choral-Synagoge am Lermontow-Prospekt. (Foto: putidorogi-nn.ru)

1893 erbaut, ist die Synagoge im multikonfessionellen Kolomna-Viertel nicht nur das geistige Zentrum der jüdischen Gemeinde in der Stadt, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles. Moyzhes: „Ich stimme gerade zwei deutsch-russische Veranstaltungen ab, die dort stattfinden sollen. Und auch sonst besuchen meine deutschen Gäste die Synagoge sehr gerne. Man kann dort gut essen und trinken, aber auch tolle Konzerte oder interessante Vorträge hören.“

Tino Künzel

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