Spiegel der Gesellschaft: Zur Debatte um Desinformationen

Wenn in deutschen und russischen Zeitungen über Desinformation diskutiert wird, fallen häufig starke Worte. In seiner neuen Studie zeigt der Politikwissenschaftler Mario Baumann, dass dies nicht unbedingt langfristig so bleiben muss. Die MDZ hat mit ihm über seine Forschungsergebnisse gesprochen.

Schlagworte aus dem Diskurs russischer und deutscher Zeitungen rund um Desinformation. (Collage: Lucian Bumeder)

Herr Baumann, was genau haben Sie in Ihrer Studie „‚Propaganda Fights‘ and ‚Disinformation Campaigns‘: the discourse on information warfare in Russia-West relations“ untersucht?
Ich habe analysiert, wie die jeweils andere Seite in den deutschen und russischen Medien dargestellt wird. Dabei wollte ich so breit wie möglich vorgehen. Deshalb habe ich mir zwei Zeiträume von jeweils einem Jahr um die Krim-Krise 2014 und nach den US-Wahlen 2016 angeschaut. Aus bestimmten Zeitungen habe ich dann alle Artikel ausgewählt, in denen die Schlagworte „Desinformation“, „Propaganda“ und „Westen“ bzw. „Russland“ vorkommen. Insgesamt habe ich 189 Artikel untersucht – aus der „Süddeutschen Zeitung“, der „BILD“, der „Rossijskaja Gaseta“ und dem „Kommersant“. Also Zeitungen mit einer starken nationalen Auflage und einem unterschiedlichen Publikum.


Was bringt Sie zu der eher optimistischen Einschätzung, dass die Konfrontation zwischen beiden Ländern keine langfristige Entwicklung sein muss?
In den vergangenen 30 Jahren gab es wiederholt enorm große Veränderungen in der öffentlichen Debatte – in Russland wie im Westen. In den 90ern und Anfang der 2000er war die gegenseitige Wahrnehmung sehr positiv. Das zeigt, dass der aktuelle, eher feindliche Diskurs gar nicht so festgefahren ist. Dazu ist zu einem gewissen Grad die ideelle Grundlage auf beiden Seiten nach wie vor dieselbe. Auch wenn es um Desinformationen geht, bezieht man sich immer wieder auf dieselben liberalen Werte, zum Beispiel Pressefreiheit oder Demokratie. Es ist nicht so, dass in dem einen oder dem anderen Diskurs eine radikal andere Ordnung gefordert wird.


Warum ist es für Forschung zu internationaler Politik wichtig, was ein paar Journalisten über Desinformation schreiben?
Es geht gar nicht um die Journalisten. Zeitungen werden hier als Spiegel der gesellschaftlichen Debatte betrachtet. Sie sind ein gutes Hilfsmittel, um den Diskurs zu messen. Der ist immens wichtig, weil er den innenpolitischen Rahmen vorgibt, vor dem Politiker ihre Außenpolitik formulieren und rechtfertigen müssen. Diskurse legen fest, was Staaten und Bürger als normal und sinnvoll ansehen. Damit bestimmen sie, welche Politik akzeptabel ist – das spielt in jedem Staat eine große Rolle. Egal ob autoritär oder demokratisch: Politik funktioniert nie ohne die Bevölkerung.

Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Desinformation?
Zum einen, weil es ein Narrativ ist, das im Moment in den Beziehungen sehr wichtig ist und viel diskutiert wird. Desinformationen werden zum Beispiel in allen wichtigen Militärdoktrinen explizit erwähnt. Aber spannender ist, dass es bei diesen gegenseitigen Vorwürfen genau darum geht, auf den Diskurs des Anderen einzugehen und diesen zu diskreditieren. Daher spielt er bei der Positionierung beider Seiten eine große Rolle und stellt einen wichtigen Teil der allgemeinen Debatte in den Ländern dar – also zumindest der öffentlich dominanten.

Sie sprechen in der Studie von „verblüffenden Ähnlichkeiten“. Worin bestehen diese?
Im Inhalt sind die Diskurse völlig unterschiedlich. Das ist klar. Aber in der Struktur sind sie sehr ähnlich. Beide präsentieren sich gegenseitig als offensive Bedrohung. In beiden Diskursen wird der Andere immer wieder als Unordnung stiftend, als unmoralisch und als irrational dargestellt. Am interessantesten ist, dass liberale, demokratische Prinzipien auf beiden Seiten eine ethische Grundlage bilden. In Deutschland wird Russland als autokratischer Gegensatz zu einem demokratischen Westen dargestellt. In Russland wird der Westen als scheinheilig verurteilt und ihm werden doppelte demokratische Standards vorgehalten. Zum Beispiel beim Vorwurf der Einschränkung der Pressefreiheit russischer Medien oder der vermeintlich opportunistischen Unterstützung von Revolutionen.


Aber ist das nicht einfach nur Propaganda? Die Reaktion staatlich kontrollierter Medien auf westliche Vorwürfe?
Das ist für eine Analyse des Diskurses nicht wichtig. Es geht hier nicht um die Absichten hinter den Aussagen oder ihren Wahrheitsgehalt. Es geht um die Sichtweise, die ein Diskurs widerspiegelt, und welche politischen Auswirkungen diese Wahrnehmung hat. Dafür ist wichtig zu verstehen, wie diese Interpretation entsteht. Die politischen Implikationen von Diskursen sind am Beispiel der Ukraine gut sichtbar. Für Russland hat der Westen in der Ukraine Unordnung gestiftet und hat die rechtmäßige Regierung durch Unterstützung der Maidan-Proteste gestürzt. Im Westen wird die Maidan-Revolution als legitime demokratische Kraft dargestellt und Russland wiederum sorgt mit seiner Einmischung in der Ostukraine für Unordnung. Beide Diskurse sehen sich im Recht und bekräftigen sich selbst. Das macht eine Einigung schwierig.


Wie ist der aktuelle Zustand historisch einzuordnen?
Auf westlicher Seite ähnelt der aktuelle Diskurs strukturell stark dem des Kalten Kriegs: demokratisch versus autoritär, zivilisiert versus barbarisch, frei versus unfrei. Das zeigt, wie prägend die Epoche war. Aber in den 90ern gab es eine ganz andere Phase: Russland wollte dem Westen ähnlich werden. Als Lerner des europäischen wirtschaftlichen und politischen Systems müsse Europa Russland unterstützten und dürfe es bei Fehlern sanktionieren. Später wurde dann immer häufiger die fehlende demokratische Tradition betont. Seit dem Ende der 2000er gibt es dann kaum noch Verweise auf eine gemeinsame Identität. Die Idee einer europäischen Gemeinschaft schließt Russland heute nicht mehr ein.


Und auf russischer Seite, wie sieht es da aus?
In Russland gibt es eigentlich seit Peter dem Großen eine Debatte, ob man sich wegen seiner wirtschaftlichen Stärke an den Westen anpassen soll oder ob Russland eine eigene, unabhängige Identität hat. Seit Gorbatschow, aber ganz stark Anfang der 90er, wurde der liberale Westen als Partner gesehen und man wollte Teil eines geeinten Europas werden – als eine Art „Rückkehr zur Zivilisation“. Aber Russland fühlte sich in Europa nie als ebenbürtig wahrgenommen. Entsprechend hat man sich von dieser positiven und unhinterfragten Position gegenüber dem Westen entfernt.


Was bedeutet das jetzt konkret für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen? Gibt es Tendenzen?
Konkrete Voraussagen sind immer spekulativ. Aber es ist klar, dass die Diskurse stark wandelbar sind: Im westlichen Diskurs wird sehr stark differenziert zwischen der russischen Regierung und dem Rest des Landes, in Russland zwischen den USA und Europa. Aber allein die Möglichkeit der Veränderung heißt nicht, dass sich auch etwas tut. Der aktuelle Diskurs kann sich auch weiter verfestigen und noch radikaler werden. Das ist vielleicht eine unzufriedenstellende Antwort, weil sie nicht einfach und direkt ist. Aber ein besseres Verständnis für die Nuancen der unterschiedlichen Perspektiven ist unumgänglich, wenn wir die Entwicklungen zwischen Russland und dem Westen nachvollziehen wollen.

Das Gespräch führte Lucian Bumeder

Zur Person

Mario Baumann ist Politikwissenschaftler und promoviert seit 2019 an der Brussels School of International Studies der britischen Universität Kent. In seiner Forschung untersucht er, wie unterschiedliche Interpretationen der Welt aus Russland und der EU miteinander interagieren. Nach einem Bachelor an der TU Dresden und einem Master in Internationaler Sicherheit an der schottischen University of St. Andrews 2018 lehrte Baumann ein Semester politikwissenschaftliche Methoden an der Diplomatenuniversität MGIMO in Moskau. Die Studie „‚Propaganda Fights‘ and ‚Disinformation Cam- paigns‘: the discourse on information warfare in Russia-West relations“ erschien im Februar 2020 in der Fachzeitschrift „Contemporary Politics“.

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