
Marks Geschichte
Die Großeltern von Mark Rosenfeld wollten nicht nach Deutschland ziehen. Selbst als ihre deutschen Nachbarn – und davon gab es früher viele in Omsk – in den 1990er Jahren ihre Koffer packten, wollten sie ihr Glück nicht herausfordern. Sie wollten nicht irgendwo neu anfangen – es reichte, dass ihre Eltern, Deutsche aus dem ukrainischen Schitomir, einst ungewollt in Sibirien gelandet waren. Nun hatten sie ein Haus, einen guten Job, ihre Verwandten waren in der Nähe. Was braucht man mehr?
Vor der Pandemie hatte Mark nicht einmal daran gedacht, nach Deutschland zu ziehen. Von Omsk aus ging er zum Studieren nach Moskau. Und von hier waren es nur etwa zwei Stunden – und man ist in Berlin. Früher war es nicht schwer, ein Visum zu bekommen. Außerdem begann Mark, sich aktiv an der Selbstorganisation der Russlanddeutschen zu beteiligen. Es gab einen regen Jugendaustausch mit Spätaussiedlern.
Doch im Frühjahr 2020 änderte sich alles. Die Grenzen wurden geschlossen, der Austausch eingestellt. Viele Russlanddeutsche, die in der Isolation saßen, begannen, Unterlagen zu sammeln, um eine Aufnahme als Spätaussiedler zu beantragen. Und Mark überredete seinen Großvater, die Dokumente vorzubereiten. Gemeinsam gingen sie zu den Gerichten, bestätigten ihre Verwandtschaft und beglaubigten die Dokumente. Aber im Februar 2022 änderte sich alles noch einmal dramatisch. Jetzt wollten die Großeltern nichts mehr von Deutschland wissen.
Zukunft in Deutschland?
Mark hätte den Antrag selbst eingereicht. Zumal seine Familie nichts dagegen hat. Seine beiden Elternteile sind deutscher Abstammung. Mark ist unter Deutschen aufgewachsen. „Als Kind in Omsk hatte ich den Eindruck, dass die ganze Welt aus Russlanddeutschen besteht“, sagt er. „Erst in Moskau habe ich gemerkt, wie viele Nationen es auf der Welt gibt. Seitdem engagiere ich mich für die interethnischen Beziehungen.“ Die aktive Teilnahme an Projekten des Jugendrings der Russlanddeutschen half ihm, seine Identität besser zu verstehen. Mark, der zwei Universitätsdiplome hat und gerne arbeitet, sieht sich in Zukunft in Deutschland. „Ich werde mich schnell integrieren und meinem Arbeitgeber nützlich sein“, sagt er zuversichtlich.
Das Problem ist, dass Mark selbst keinen Antrag stellen kann: Er ist erst 29 Jahre alt. Das bedeutet, dass er nach dem 1. Januar 1993 geboren wurde und nach deutschem Recht nicht als Spätaussiedler betrachtet werden kann.
Dura lex
Russlanddeutsche erhielten durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) das Recht, als Spätaussiedler nach Deutschland zu ziehen. Es trat am 1. Januar 1993 in Kraft. Die Logik des Gesetzgebers war folgende: Alle Deutschen in der UdSSR litten darunter, dass Hitler die Sowjetunion angriff. Sie wurden sofort deportiert, dann in Arbeitslager gesteckt, sie lebten jahrelang in den Sondersiedlungen, konnten nicht in ihre Heimat zurückkehren, konnten keine beliebige Hochschule besuchen usw. Wer vor dem 1. Januar 1993 in die Bundesrepublik migriert und als Aussiedler anerkannt worden ist, behält den Aussiedler-Status.
Nach dieser Logik lebten diejenigen, die nach dem 1. Januar 1993 geboren wurden, in freien Ländern. Sie waren keinen Repressionen ausgesetzt. Daher gibt es für sie keinen Grund, einen Antrag zu stellen. Die Antragsteller können ihre Eltern oder Großeltern sein, wenn sie die im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) aufgeführten Bedingungen erfüllen.
Die Situation ändert sich jedoch. In den letzten drei Jahren ist die Zahl der jungen Menschen in den postsowjetischen Republiken, die nach Deutschland auswandern möchten (oder dies bereits getan haben), drastisch gestiegen. Mark Rosenfeld war erfreut, als er hörte, dass die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm versprach, den „Zuzug von Familienangehörigen, die nach dem 1. Januar 1993 geboren wurden, nach Deutschland zu ermöglichen“. Marks Vater und seine neue Familie leben übrigens seit 1995 in Deutschland als Spätaussiedler.
„Jetzt wird sich die deutsche Jugend darauf stürzen, die Anträge auszufüllen. Die jahrzehntelange Arbeit der Organisationen der Russlanddeutschen hat eine Generation von jungen Menschen hervorgebracht, die keine Probleme mit der deutschen Identität haben“, sagt Mark, der die Assoziation der Moskauer Deutschen leitet. „Wissen Sie, auf welches Jahr der Zeitrahmen ausgedehnt werden wird?“
Stephans Geschichte
Sollte der Zeitraum tatsächlich verlängert werden, und zwar gleich um 15 Jahre, dann wird der 21-jährige Stephan Sinitsa aus Moskau den Spätaussiedler-Antrag ausfüllen. Seine Vorfahren, die Bosserts, waren Schwarzmeerdeutsche. In den Kriegsjahren wurden sie als Volksdeutsche ins Dritte Reich umgesiedelt und nach dem Krieg repatriiert – ins Arbeitslager im Ural. Dann ließen sich die Bosserts in Zentralasien nieder. Anfang der 1990er Jahre zog der größte Teil der Familie Bossert aus der zusammenbrechenden Sowjetunion nach Deutschland, darunter auch seine Urgroßmutter Theresa. Zur gleichen Zeit zogen Stephans Großeltern als hochqualifizierte Chemiker mit ihren Kindern nach Moskau. Aus diesem Grund stellten sie zunächst keinen Spätaussiedlerantrag. Im Jahr 2002 änderte die Großmutter ihre Meinung und erhielt den Aufnahmebescheid. Sie nutzte ihn jedoch nicht. Die Familie blieb in Moskau.
Jetzt ist Stephans Großmutter zu alt, dass sie nicht mehr umziehen kann. Sein Vater will nicht umziehen – wegen der Arbeit. Der Jura-Student Stephan kann und will, aber er hat nicht das Recht dazu. Und er würde gerne die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen – weil er sich eben als Deutscher fühlt. „Ich spreche fließend Deutsch, zu Hause feiern wir deutsche Feiertage, kochen Gerichte aus der Küche der Russlanddeutschen. Ich möchte Bürger des Landes sein, das ich als meine historische Heimat betrachte“, antwortet Stephan auf die Frage, warum er den Spätaussiedler-Status beantragen würde, wenn das Gesetz geändert würde.
Swetlana
Auch die 19-jährige Swetlana Wiedergold aus der Kleinstadt Tschusowoj in der Region Perm würde den Antrag ausfüllen. Ihr Urgroßvater, ein Wolgadeutscher, landete hier nach seiner Einberufung zur Arbeitsarmee. So blieb die Familie im Ural wohnen. „Ich habe meine Großeltern gefragt, warum wir hier leben und nicht in Deutschland“, sagt Swetlana. „Sie antworteten, dass sie daran gewöhnt seien.“ Im Moment studiert Swetlana in Jekaterinburg, aber wenn sich die Möglichkeit ergibt, ihr Studium in Deutschland fortzusetzen, wird sie sie wahrnehmen.
Aufnahmepraxis
Der Vorschlag zu den nach 1993 geborenen ethnischen Deutschen ist nicht der einzige im Programm der Union, der die Unterstützung der Spätaussiedler und deutscher Minderheiten im Ausland betrifft. Sie versprechen zum Beispiel, das Tor nach Deutschland für sie offen zu halten oder sie in ihrer Selbstidentifikation als Deutsche zu stärken. Diese Wahlaussagen sind aber eine Fortsetzung der traditionellen CDU/CSU-Politik gegenüber Spätaussiedlern. Und nur die Ermöglichung des Zuzugs der nach dem 1. Januar 1993 geborenen Angehörigen wäre ein Durchbruch, etwas Neues – angesichts der aktuellen geopolitischen Realitäten.
Den Prognosen zufolge haben die Christdemokraten gute Chancen, ihre Wahlversprechen nach dem 23. Februar umzusetzen. Sie können damit beginnen, die derzeitige restriktive Aufnahmepraxis für Spätaussiedler zu ändern, über die die MDZ in den letzten zwei Jahren mehrfach geschrieben hat. Denn wenn sie bestehen bleibt, wird es für junge Menschen noch schwieriger, ihre deutsche Herkunft nachzuweisen und den Aufnahmebescheid zu bekommen.
Dann wird vielleicht auch die Zahl der neuen Spätaussiedler steigen. Im Jahr 2024 ist sie mit 4328 Personen fast auf ein Rekordniveau der letzten zehn Jahre gefallen. Den Statistiken des Bundesverwaltungsamtes zufolge kamen davon 2397 Spätaussiedler aus Russland, 1549 aus Kasachstan und 131 aus der Ukraine.
Olga Silantjewa