Spätaussiedler-Verfahren: Neue Hürden

Im Februar erschienen in der MDZ Artikel über im postsowjetischen Raum lebende Deutsche, denen der Status als Spätaussiedler auf Grund von Änderungen ethnischer Angaben in den Dokumenten verweigert wurde. Seitdem hat sich ihre Lage etwas verbessert. Aber bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland ist es noch ein langer Weg. Wir setzen uns weiterhin damit auseinander.

Maria Schamne kann Hindernisse im Sport überwinden. Aber bürokratische Hürden fallen ihr schwer (Foto: privat)

Kurzer Rückblick. Im Winter wandte sich die Initiativgruppe der postsowjetischen Deutschen, die 2022–2023 Ablehnungen vom Bundesverwaltungsamt (BVA) erhalten hatten, an die MDZ. Bei der Begegnung in der Redaktion vertraten die Moskauer Oxana und Igor Sucharew deren Interessen. Sie hatten die „Abgelehnten“ in der Vereinigung „Versammlung Auslandsdeutscher“ zusammengefasst. Für die Ablehnung gab es zwei Gründe. Erstens, weil in ihren Unterlagen eine andere als die deutsche Nationalität angegeben war (was Gegenbekenntnis genannt wird). Und zweitens, weil das BVA den vorgelegten Attesten, Urkunden und Auszügen aus Dokumenten keinen Glauben schenkte.

Nancy Faeser: „Zur alten Aufnahme“

Bereits im Februar 2023 hat Natalie Pawlik (SPD), die Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, in einer Pressemitteilung dazu aufgerufen, die Bearbeitungspraktik der Anträge der Deutschen aus Russland, der Ukraine und Kasachstan zu untersuchen: „Die Voraussetzungen für die Aufnahme von Spätaussiedler:innen müssen an die aktuelle Situation sowie die Lebensrealität der Betroffenen angepasst werden.“ Sie versicherte, dass ihr Team und sie an der Lösung des Problempunktes im Sinne der Betroffenen arbeitet, welcher die vormals getroffene Aussage über die Zugehörigkeit zu einer anderen Nationalität als der Deutschen berücksichtigt.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) versprach auf eine Anfrage der Opposition im Bundestag am 15. März hin, sie wolle bald die Ge­set­ze so an­pas­sen, „dass wir wie­der zur alten Auf­nah­me zu­rück­kom­men“.

Christoph Verenkotte: Bis zur legislativen Klärung

Nach der Ankündigung der Innenministerin hat das BVA in Erwartung der angesprochenen Gesetzesänderung bereits die Einführung eines Moratoriums veranlasst, nach welchem Antragsverfahren, in denen das Thema „Gegenbekenntnis“ eine Rolle spielt, bis zur legislativen Klärung ruhend gestellt werden. So würden weitere Ablehnungen vermieden, äußerte sich der Leiter des BVA Christoph Verenkotte bei einem Treffen mit dem Präsidenten des Bundes der Vertriebenen Bernd Fabritius am 18. April in Köln.

Verenkotte und Fabritius waren der Meinung, dass Änderungen, die nach einem Gegenbekenntnis ohne Zusammenhang mit einem Aufnahmeverfahren eintreten, auf eine innere Hinwendung zur deutschen Volkszugehörigkeit hindeuten. Dies gelte auch für die Korrektur urkundlicher Eintragungen zur Nationalität. Wenn jedoch der Antragsteller die Dokumente geändert hat, weil er nach Deutschland übersiedeln möchte, werden andere Anforderungen an seine Unterlagen gestellt werden. In einem solchen Falle werden mehr Papiere vonnöten sein. Welche das sein werden, ist allerdings nicht bekannt. In den zugänglichen Quellen konnte die MDZ nichts darüber finden. 

Maria Schamne: „Viele Dokumente“

Maria Schamne wohnt in einer kleinen Siedlung in Kasachstan. Eine junge, schöne und sportliche Frau, Mutter zweier Kinder. 2021 füllte Schamne den Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedlerin aus und schickte ihn an das BVA. „Wir haben viele Dokumente beigebracht“, erinnert sich Maria. „2022 kam eine zusätzliche Anfrage wegen der Hausbücher. Meine Eltern waren bei meiner Geburt nicht verheiratet, sie haben erst später die Ehe geschlossen. Aber aus den Hausbüchern geht hervor, dass die Familie zusammengelebt hat. Dennoch erhielten wir im Oktober 2022 eine Absage.“ Begründung: nicht bewiesene biologische Abstammung von einer Person deutscher Nationalität.

Das BVA konnte nicht erkennen, dass zwischen Michail Schamne, dem Vater Marias, der 1948 in einer Sondersiedlung geboren wurde, und seinem Vater Iwan Schamne eine Verbindung bestand, denn auch Michail wurde außerehelich geboren. Maria erinnert aber daran, dass damals nach dem Krieg und bis 1956 „Eheschließungen und andere administrative Registrierungen von Sondersiedlern praktisch unmöglich waren.“ In der Geburtsurkunde Michail Schamnes, die 1956 ausgestellt wurde, ist Iwan als Vater angegeben, als Deutscher übrigens.

Maria Schamne: „Genetische Revolution“

Daraufhin machte Maria Schamne in einem Münchner Labor einen DNA-Test. Dabei wurde Genmaterial Marias und ihrer Tante Olga, die 2002 zusammen mit dem Großvater als Spätaussiedler nach Deutschland übersiedelte, verglichen (Olga ist die Tochter des Großvaters Iwan Schamne und die jüngste Schwester Michails). 99,99% Übereinstimmung!

„Ich schickte das Ergebnis des DNA-Gutachtens an das BVA und war nicht auf einen weiteren Stolperstein gefasst“, sagt Maria. „Ende April erhielt ich jedoch eine Absage. Nach Meinung eines Beraters des BVA ist meine biologische Abstammung von Iwan Schamne weiterhin nicht bewiesen.“

Er hat anhand eines Schaubildes aufgezeigt, warum seiner Meinung „aufgrund der menschlichen Chromosomensätze und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten mit dem vorgelegten Gutachten eine weitergehende als die ausdrücklich bescheinigte Verwandschaft, insbesondere ihre biologische Abstammung von Iwan Schamne, nicht nachweisbar ist“. So steht es in der Ablehnung.

Das Schaubild vom BVA-Berater (Foto: privat)

Aus dem Schema geht hervor, dass im Blut Marias mehr Gene von Frauen sind (die Frauen Iwans und Michails waren Russinnen). „Geradezu eine genetische Revolution!“, kann Maria ihre Emotionen nicht mehr zügeln. Sie schrieb über den Beitrag des BVA-Beraters  zur Genetik und seinen Einfluss auf ihr Schicksal an Nancy Faeser (die Ministerin hat nicht geantwortet) und an Bernd Fabritius (er riet, einen Anwalt einzuschalten). „Ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden kann“, sagt Maria Schamne.

Anton: „Dieser Unsinn vom BVA“

Anton kommt aus Sibirien, den Namen seiner Siedlung bat er nicht zu nennen. Er arbeitet als Trainer. 2020  beantragte er einen Aufnahmebescheid als Spätaussiedler. Er reichte seinen Antrag zusammen mit der Ablehnung des örtlichen Gerichtes über die Änderung der Nationalität ein. Dem Antrag waren auch Dokumente beigelegt, die bestätigen, dass die Großmutter Antons mütterlicherseits eine Wolgadeutsche war. Danach folgten: zusätzliche Befragung, zweite Gerichtsverhandlung zu Hause und wiederum eine Ablehnung, die Nationalität zu ändern, Widerspruch in Deutschland. Im Sommer 2021 gab das BVA seine Entscheidung bekannt: Der Antrag wird abgelehnt. Weil Anton den Dokumenten nach Russe ist.

Daraufhin zog Anton in eine andere Stadt, wo er einen Anwalt hinzuzog und ein drittes Mal vor Gericht ging. Diesmal hatte er Glück: Ihm gelang es, die Nationalität in seinen und den Dokumenten der Mutter zu ändern. Er schickte sie an das BVA und hofft nun, dass in den nächsten Wochen die Gerichtsverhandlung stattfindet, die die Bearbeitung seiner Angelegenheit bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung einfriert.

„Und nun kam vor ein paar Tagen dieser Unsinn vom BVA. Der Inhalt des Briefes: War die Großmutter wirklich Deutsche? Und das alles ungeachtet dessen, dass zusammen mit dem Antrag auch die Geburtsurkunde der Großmutter abgeschickt wurde, in der ganz klar geschrieben steht, das ihre beiden Elternteile Deutsche sind“, erzählt Anton.

Oxana und Igor Sucharew: „Ein entscheidender Moment“

Das ist ein entscheidender Moment, finden Oxana und Igor Sucharew: „Das BVA nimmt jetzt nicht mehr das Gegenbekenntnis zum Anlass, sondern schaltet den Mechanismus des Anzweifelns der Dokumente ein oder ignoriert sie. Der Antragsteller reicht einige Dokumente ein, die seine deutsche Abstammung bestätigen, aber das BVA spricht eine Ablehnung aus oder sagt dem Gericht, dass die Dokumente nicht vorgelegt worden oder nicht echt seien.“

Igor Sucharew (s. seine Geschichte in der MDZ 3/2023) schickte 48 Dokumente allein zu seiner Herkunft an das BVA. Er plant, einen Antrag bei der deutschen Staatsanwaltschaft einzureichen mit der Bitte herauszufinden, warum das BVA seine Dokumente „nicht sieht.“ Seiner Meinung nach überschreiten die Entscheidungen der Berater des BVA ihre dienstlichen Befugnisse. „Aber warum das alles gemacht wird – aus Unkenntnis oder wegen einer politischen Aufgabenstellung – soll die Staatsanwaltschaft klären“, sagt Igor Sucharew.

„Das Tor nach Deutschland muss offen bleiben“

Deutsche Politiker verschiedener Parteien sagen, dass für ethnische Deutsche das Tor nach Deutschland offen bleiben muss. Dieser Satz ist ein Erbe der 1990er Jahre. Damals ist durch dieses Tor ein Strom von bis zu 200 000 Übersiedlern pro Jahr gegangen. Jetzt ist es eher ein Rinnsal: 2022 übersiedelten ungefähr 7000 Deutsche aus dem postsowjetischen Raum.

Das BVA hat im vorigen Jahr 11 383 neue Anträge erfasst, 5 558 davon aus der Russischen Föderation. Über 6086 Anträge wurden positiv beschieden, 1500 Antragsteller erhielten eine Absage, 2006 Schriftverfahren wurden eingestellt, 1758 Anträge „sind inaktiv“. Diese Statistik wird in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage vom 30. März 2023 angeführt.

Olga Silantjewa

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