
Monoton, aber faszinierend
Das Projekt Ay Yola wurde vor fast einem Jahr ins Leben gerufen, um eine Hymne zum 450. Jahrestag der Stadt Ufa zu schreiben. Der Name der Gruppe bedeutet in der baschkirischen Sprache „universelle Gesetze“, „Regelwerk des Universums“.
Der jungen Band gehören die Sängerin Adel Schajchitdinowa, ihr Vater Ruslan Schajchitdinow (tatarische Maultrommel Kubyz, Gitarre), und der Musiker Rinat Ramasanow (Flöte Kuraj, Hintergrundgesang) an. Die Lieder-Palette des Trios umfasst mehrere Werke, die die Traditionen und Legenden der Baschkiren weitergeben. Da dem Ganzen das alte baschkirische Epos „Ural-Batyr“ zugrunde liegt, ist der Klang der Songs erwartungsgemäß folkloristisch – und somit weit entfernt von den üblichen modernen Hits.
Der Musikstil der Band ist geprägt von einem monotonen, an Hufgeklapper erinnernden Rhythmus und der Verwendung sich wiederholender musikalischer Phrasen. Gleichzeitig verwenden die Musiker ungewöhnliche melodische Übergänge sowie hypnotisierende Gesangstechniken. Durch den tiefen Bass wird eine besondere Atmosphäre geschaffen, die den Zuhörer in einen meditativen Zustand versetzt.
Homay, der Vogel des Glücks
Der auf den ersten Blick ungewöhnlich klingende Name des neuen Hits geht laut den Künstlern auf die Heldin des baschkirischen Epos „Ural-Batyr“ zurück. Homay war die Tochter des Königs der Himmelsvögel namens Samrau sowie der Sonne und konnte sich in einen Schwan verwandeln. Homay gab dem Epos-Helden Ural ein Diamantschwert und ein Pferd, um böse Geister und grausame Herrscher zu bekämpfen. Später wurde sie seine Frau.
Der Legende nach war es Homay, die Ural den Weg zur Quelle des ewigen Lebens zeigte. Am Ende erreichte der schwer verwundete Kämpfer diese, beschloss jedoch, das lebensspendende Wasser nicht zu trinken. Stattdessen „verschenkte“ er die Quelle zur Erlösung der gesamten Menschheit und starb. Homay verwandelte sich danach, als Zeichen der Liebe und Treue, für immer in einen Schwan.
Die Frau war aber mehr als ein „Vogel des Glücks“, wie man sie nennt: In Legenden wird sie auch als Kämpferin, Beschützerin, Mutter würdiger Söhne dargestellt, die ihre Wurzeln nie verriet. Man besagt, wenn Homay über einen Menschen flog, erwartet ihn eine große Zukunft. In der baschkirischen Folklore steht Homay sinnbildlich für Licht, Weisheit und Treue zu eigenen Traditionen.
Die Gruppenmitglieder schrieben in den sozialen Medien, dass diese Geschichte Menschen wecken könnte, und zwar ihre „Erinnerung an alte Wahrheiten, die Kraft, wir selbst zu sein, den Wunsch, unserem eigenen Weg zu folgen“.
In Shazam-Charts
Anfang April kletterte der Song „Homay“ auf Platz vier der weltweiten Shazam-Charts. Und, was besonders viel Aufsehen erregt hat, weil es absolut unerwartet – aus verständlichen Gründen – war: Das Lied hat es sogar vor Kurzem geschafft, bei Apple Music in der Ukraine Platz 1 zu belegen.
Der Ruhm der baschkirischen Gruppe hat sich weit über ihre Heimatregion und über die Grenzen Russlands hinaus verbreitet. „Homay“ wird in den Niederlanden, Finnland, Belarus, Kasachstan, Tschechien, Dänemark, Usbekistan, den Vereinigten Arabischen Emirate, Deutschland (Platz 7 bei Shazam, Stand 14. April), Österreich, Frankreich und Großbritannien gehört.
Der Song begleitet zudem zahlreiche Reels und Clips, die im Netz inzwischen wie Pilze aus dem Boden schießen.
Junge Frauen erinnern sich, inspiriert durch das Lied, an die Geburtsnamen ihrer Mütter, Großmütter, Urgroßmütter und stellen auf diese Weise die Geschichte ihrer Familie dar. Der ethnische Bezug des baschkirischen Hits veranlasste viele dazu, tiefer in die Kultur ihres eigenen Volkes einzutauchen.
Aus Russland, aber nicht auf Russisch
Uralte Tradition und moderne Aufführung, Rückbesinnung auf das Erbe des eigenen Volkes: Ist das der Schlüssel zum Erfolg? Ruslan Schajchitdinow führt die breite Resonanz auf „Homay“ darauf zurück, dass die Menschen genug von klischeehafter Musik hätten. „Volksmusik bietet Raum für Fantasie. Für mich als Musikproduzent ist das sehr interessant – das Zusammenspiel neuer Klänge“, erklärt er.
Durch die Verwendung unterschiedlicher Musikinstrumente würden „erstaunliche Texturen“ entstehen. Das Geheimnis des rasanten Erfolgs der Band, über das viele rätseln, sei schlichtweg, dass „Homay“ zum richtigen Zeitpunkt erschienen sei und den Nerv des Zuhörers getroffen habe.
Dabei ist die junge baschkirische Band nicht die einzige Gruppe aus Russland, die mit Volksliedern in den letzten Jahren auf Spitzenplätzen der Weltcharts landete. So hat Ende 2023 das Lied „Pyjala“ des tatarischen Duetts „Aigel“ den ersten Platz im Shazam-Ranking belegt. Der Text ist auf Tatarisch verfasst. Den Erfolg des Lieds verband man vor allem mit dessen Erscheinen in einer modernen russischen Fernsehserie über Jugendbanden in der späten Sowjetunion. Und in Russland selbst können die Lieder in den Nationalsprachen sogar mit solchen Hits wie der fantastisch populären Komposition „Sigma boy“ mithalten.
Viktoria Nedaschkowskaja