Sonettenkränze von einem Wanderer zwischen den Welten

Mit „Nihilschwimmer“ ist dem russlanddeutschen Autor Max Schatz ein Kraftakt gelungen, die alte lyrische Form mit eigenen neuen Inhalten zu füllen.

In seinem im Mai 2020 erschienenen Buch „Nihilschwimmer“ präsentiert Max Schatz seine Sonettenkränze (ein Sonettenkranz ist eine strenge poetische Form, bestehend aus 15 Sonetten, die schon im 18. Jahrhundert bekannt war), die nicht nur in den einzelnen Sonetten innerhalb der Kränze thematisch miteinander verknüpft, sondern auch im ganzen Buch miteinander verwoben sind durch bestimmte Motive, Weltbilder und Traumvisionen des Autors, die schon in seiner früheren Prosa auftauchten. Seine erfinderische Intuition besteht darin, dass er bestimmte mystische Vorstellungen der modernen meditativen Poesie in ein ganz persönliches Wertesystem kosmischen Ausmaßes in seiner Lyrik einbettet.

Die Gedankenwelt von Max Schatz ist genau so mitreißend wie seine Freude an der Entdeckung neuer Dimensionen der Wörter und bekannter Redewendungen. Er spielt mit den Begriffen des Mikro- und Makrokosmos – von den erlebten persönlichen Empfindungen und Enttäuschungen bis zu Weltordnungen und Kataklysmen im Universum.

Der Autor selbst erklärt den Titel des Buches folgendermaßen: „Ich wollte meinen Gedichtband zuerst „Nichts-Schwimmer“ nennen in Anlehnung an den Nichtschwimmer. „Nihilschwimmer“ klingt aber irgendwie besser: sozusagen „der nicht schwimmen könnende Schwimmende im Nichts“… Natürlich spielt der Nihilismus hier eine Rolle, aber der Nihilismus hat ja viele Facetten.“

Im Klappentext des Buches wird der Protagonist so bezeichnet:… Ein lyrisches Ich, das zeitlebens nicht in seinem Element ist, doch gezwungen, darin zu bleiben, stets auf der Reise, auf der Suche, irgendeine „Wahrheit“, ablehnend, im Dunkel des Lebens am Ariadnefaden entlang … zurück zum Sinn.

Darauf muss der Leser erst mal kommen! Dafür muss er erst im Labyrinth der Gedankengeflechte des Autors zurechtkommen. Das 105 Seiten starke Buch beherbergt sieben eigene Sonettenkränze und zwei Nachdichtungen der russischen Sonettenkränze von Elena Seifert und Sergej Kalugin, die in verschiedenen Jahren zwischen 2009 und 2015 entstanden sind.

Dazu schrieb Max Schatz in einer anderen Quelle: „Der erste Sonettenkranz, den ich las, war „Wermutkranz für Maximilian Woloschin von der russlanddeutschen Autorin und Literaturwissenschaftlerin Elena Seifert. Obwohl ich da noch nicht viel von der strengen Form eines Sonettenkranzes verstand, inspirierte mich dieses lange Gedicht so sehr, dass ich fortan selbst Sonettenkränze zu „flechten“ begann.“

Und er investierte viel Zeit, um diesen Sonettenkranz ins Deutsche zu übersetzen.

„Nihilschwimmer“ (Sonettenkränze), ostbooks Verlag, hrsg. Bayerisches Kulturzentrum der Deutschen aus Russland und Literaturkreis der Deutschen aus Russland e. V., 2020, ISBN: 978-3-947270-09-5, 108 S.

Der noch relativ junge russlanddeutsche Autor hat viele prominente Vorgänger aus verschiedenen Jahrhunderten und Ländern, auch in unserer Diaspora, und zwar in der Person von Johann Warkentin mit seinen leidenschaftlichen politischen, sprachlich präzisen „Russlanddeutschen Berlin-Sonetten“ (LMDR, Stuttgart, 1996), der die einzelnen Sonette aber nicht in Kränzen, sondern in sieben ziemlich großen Themenzyklen zusammengefasst hat. In der Wikipedia kann man auch Informationen finden u. a. zu einem Autor mit dem Pseudonym ZaunköniG mit drei Sonettenkränzen und Ludwig Bechstein aus dem 19. Jahrhundert mit ganzen vierzehn Sonettenkränzen.

Max Schatz gelingt es fast genauso gut den Spannungsbogen in diesen Langgedichten bis zum abschließenden Meistersonett, das aus den jeweils ersten Zeilen der vorhergegangenen Sonette besteht, aufrecht zu halten und eine sehr bildhafte Sprache zu präsentieren. Seine Sonette sind ein kompliziertes Geflecht aus der ewigen inneren Unruhe eines Suchers und Wanderers zwischen den Welten, der versucht, den Sinn des Lebens und den Plan des Universums zu erraten – sowie die Rolle unseres blauen Planeten als Spielball unsichtbarer Giganten. Er spürt das Echo früherer Kataklysmen auf und setzt es in Wortfantasien um.

Der Lyrikheld des ersten Sonettenkranzes „Sternenblumenkerne“ (2009) ist jung, enttäuscht von der Tristesse und der Probleme des irdischen Alltags, der – von Lug und Trug der Politik bis zu den Autor quälenden Fragen des Daseins, die schon seit Lichtjahren und Generationen immer wieder auftauchen – einem Hamsterrad ähnelt. Damit verbindet er das Motiv der verlorenen Söhne, denen das Elternhaus zu eng ist und sie deshalb aus dieser Welt ausbrechen auf der Suche nach den „Körnchen der Wahrheit“ nicht nur auf der Erde, sondern im Universum – wenn auch nur in Gedanken. Doch der Autor warnt, dass diese „Ritter der Wahrheit“ in ihren selbst gebauten Käfigen aus Medien-Drogen, Maulkörben, Leistungsdruck usw., in ihrer machtlosen Wut auf die verlogene, auf Geiz geile Gesellschaft zu Gewalttätern werden und Amok laufen können. Solchen Ausschreitungen, wenn „das Fass voll ist“, stellt der Autor „die stärkste Waffe – die Kraft zu lieben“ gegenüber und „die letzte Hoffnung: Sternenblumenkerne mögen den Hungernden nie mehr ausgehen“. Die Körner der Wahrheit, zerrieben zu Staub, lassen also trotzdem nicht gleichgültig – sie sollen weiterhin gesucht werden.

Im zweiten Sonettenkranz „Liebes … totes Tagebuch“ (2013) greift er das autobiographische Thema der Ausreise nach Deutschland auf, aber gemeint ist hier vor allem nicht der erste Schock nach der Einreise mit elf Jahren, sondern die innere Veränderung, die späteren Ereignisse der Jugend des Autors, die ihn stärker prägten. Der Protagonist fühlt sich auf einer Brücke zwischen der tatsächlich eingetretenen und einer möglichen Gegenwart, wäre er nicht nach Deutschland übergesiedelt. Drüben ein Zehntklässler, der nach den Sternen greifen und diese Brücke als Flugplatz-Startbahn ins neue Leben sehen würde, ist er hier und jetzt entzwei. Seine Gedanken an drüben empfindet er als einen Rückwärtslauf und resümiert verzweifelt, dass die erträumte Zukunft auch nicht mit einer anders verlaufenen Vergangenheit zu bekommen gewesen wäre: „Es kam und käm’ nicht, wie ich’s mir vorstellte“, sich vergleichend mit einer im Fluss der Zeit unter dieser Brücke schwimmenden verlorenen Perücke: nicht hier und nicht dort. In Nordkasachstan wäre er vielleicht ein „Veteran der Straßenkriege“ oder ein Skilauf-Sprinter geworden statt eines Nerds in Deutschland, der gern zu Hause am PC sitzt.

Diese innere Zerrissenheit – „das Herz schmerzt sich frei beim Nostalgieentzug“ – beschreibt er in diesem Sonettenkranz, und im Meistersonett schreibt er: „Ich schau’ zurück auf zwei ungleiche Leben, / sind ein und Selbes in der Träume Reich, / wo sie dank Staub inzwischen sich verkleben, / die Zeit erlaubte sich da einen Streich / …“

Max Schatz versucht dieGrenzen des Erwartbaren zu sprengen, er hat einen besonderen Blick auf das, was um ihn herum geschieht. Dadurch sind einige boshaft-kritischen Beobachtungen zu aktuellen Geschehnissen in seine Sonette eingeflochten.

Der Titel des Sonettenkranzes „An einem Schneckentag“ bezeichnet symbolisch das ganze Leben eines Menschen im Vergleich zu der Ewigkeit. Es ist ein Traum von der erwiderten Liebe, von einem dadurch beflügelten Herzen, doch in der kalten Realität: Verhöhnung, Einsamkeit, Schüchternheit des jungen Protagonisten, seine und des Mädchens Angst, die Freiheit zu verlieren. Wie zart der Ton des hoffnungslos verliebten Außenseiters, wie wild die Rhythmen seines Herzens, und seine Erkenntnis wächst, dass Liebe ein Spiel ist, wo Schmerz nur in den Träumen gestillt werden kann, in denen er sich als einen kühnen Albatros über dem stürmischen Meer fliegen sieht, der über das Unwetter im eigenen Herzen hinwegkommt, im Drang nach Freiheit in seine erträumte Welt flüchtet, um nicht im „Liebeskäfig“ eingesperrt zu bleiben. Er will nicht sich dem Spott aussetzen, verkümmern im Jammertal, sondern fliegen lernen. Diesen Spagat „leiden – lieben – fliegen“ empfindet er als die wichtigste Erkenntnis, als das Echteste im Leben.

Aus meiner Sicht ein meisterhafter Sonettenkranz mit einem klaren, wenn auch manchmal wieder verträumten Blick und holder Zärtlichkeit und Kühnheit in der Wahl der Worte, die das Wachsen des Protagonisten am Erlebten schildern.

Im später geschriebenen Sonettenkranz „Allein gegen das Milieu“ (2015) finden wir auchGesellschafts-, Medien- und Literarturkritik im harten Kern eines Dichters, der nicht gelebt hat und als ein verstaubter Aktenordner enden wird: „wenn kein Schweiß, auch kein Tod“. Die Untoten spuken also durch diesen Sonettenkranz … „Verstopfte Nasen trifft kaum ein Gestank / in Höhenluft des Andersseins, / sie rümpfen sich nicht, / wenn tauchen knapp auf aus den Sümpfen / des Alltags …“ Wenn der Leser durch diese Milieu-Kloake mit einer Flut von negativen Begriffen, Vergleichen und kritischen Bemerkungen zu aktuellen Geschehnissen durchgedrungen ist, versteht er den Protest, den Kampf mit sich selbst und auch die bitterböse Ironie des Autors, der den aufgezwungenen Maskenball auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten der Konsumgesellschaft zum Kotzen findet. Der Protagonist, ein Bürokrat der Literatur, hält sein nicht gelebtes Leben von der Geburt bis zur Rente und Tod akribisch fest. Auch gegen dieses negative Vorbild rebelliert der Autor und bedauert seinen Abgang nicht.

Für mich – eine Kopfgeburt eines Ungeheuers, das meine Seele vor der Kälte eines Milieus, wo jeder nur sich selbst der Nächste ist, erstarren lässt.

Man kann sich manchmal in den Langgedichten von Max Schatz verlieren, aber dann bringen seine Abschlussplädoyers in den Meistersonetten alle vorherigen Argumente auf den Punkt.

„Die Wiederkehr“ (2013) ist eine Nachdichtung des Autors seines eigenen Gedichts, das ursprünglich auf Russisch geschrieben wurde. Diesen Sonettenkranz stellte Max Schatz einen Monat nach seiner Nachdichtung des Sonettenkranzes „Rosarium“ von Sergej Kalugin, einem russischen Dichter und Musiker, fertig. In beiden gibt es eine Annäherung an ein ähnliches apokalyptisch-mystisches Thema. Nur dass Kalugin als Suchender nach dem Wandern im Weltall die Stille auf der Erde sucht: „Und wieder wandle waldwärts ich im Gram / durch Heimes heile Welt als Birkenstamm, /bewegt-beständig trag’ ich meine Bürde“ und „Wenn meine Stimme ruht, dann fand ich Worte“.

Max Schatz bevorzugt die Turbulenzen des Weltalls wie in seinem Sonettenkranz „Leben und Tod von Godehard Drachenhund“ Dazu sagt er: „Godehard Drachenhund“ ist meine „Erfindung“. Ein seltener, weniger moderner deutscher Vorname musste her: Godehard. „God“, weil dieser Sonettenkranz sich zum Teil mit Religion und Gott beschäftigt. „Godehard“ rückwärts gelesen ergibt „drahedog“. Daraus kam ich auf den Nachnamen „Drachenhund“. Ein Drachenhund ist aber auch ein chinesisches Symbol für Feuer.

In diesem Kranz steht „ewig’ Feuer“ für das, was nach dem Tod ewig weiterexistiert. So viel zum Titel … Die unerwiderte Liebe und der Lebensweg, die innere Reise eines Künstlers, Träumers und Sonettschreibers sind hier verbunden mit dem Schicksal des blauen Planeten Erde, ihrem Platz in der Galaxie als dem „stets pochenden Kosmosherz“. In der Vorstellung des Dichters entsteht ein gigantisches Panoramabild einer Schlacht zwischen titanischen Mächten des Universums, welche die Erde nur als einen Spielball oder sogar Müllhalde der Evolution sehen. Das Gefühl der Platzangst wie bei einem Flaschengeist lässt manche Träume platzen. Und es folgt ein neuer Traum von einem neuen Abenteuer, wo Himmel, Hölle oder Fegefeuer den Wanderer im Universum erwarten. Daneben liest man solche Zeilen: „Ach, dieser stete Drang, erhört zu werden! / Als gebe es kein andres Ziel auf Erden – dem Herdentrieb abschwören für den Ruhm. / Dass es bedurfte eines kleinen Stoßes, / zu stürzen aus dem Sattel hohen Rosses, / das war vielleicht vom Schicksal gar nicht dumm.“

In solchen Dimensionen ist „die Apokalypse nur ein Déjà-vu“. Und so schließt sich der Kreis wie schon in „Die Wiederkehr“, und am Ende taucht wieder das Motiv des Suchenden und Strebenden, des verlorenen Sohnes auf, der wie der Dichter auf die Erde zurückkehrt (zurückinkarniert?): „So wie gingst, so kommst du wieder her.“

Zu dem Titel des Sonettenkranzes „Spektrakel“ teilte der Autor mir Folgendes mit: „Es ist ein Mischwort aus Spektakel und Spektrum (Farbspektrum), also eine Art Farbenspektakel. Ich hoffe, dass der Text dem Anspruch des Titels gerecht werden kann, ich kann das selbst schwer beurteilen.“ Tatsächlich taucht hier in jedem Sonett ein eigenes Farbmotiv auf, das etwas über den Gemütszustand des Autors verrät. „… weiter treu dem Sog klarer Weiten bleiben … / als Nomade / sagen „Stadt, ade!“, dies ist der Fernwehblues / und die Dichtergrade langsam schon im Plus / noch so lang sei Fastenzeit der Schreibblockade …“Man braucht einen langen Atem und muss sehr konzentriert der Bilderwelt des Autors folgen, um sie nachvollziehen zu können. Hier findet er zum Schluss einen langsameren, nachdenklicheren Rhythmus und mahnt sich selbst:„Lass die Bilder ’nen Hauch langsamer passieren!“

Auch der Leser, der mit dem Autor seine innere Reise mitgemacht hat, wird nachdenklicher über die ewigen Fragen des Seins und bewundert seinen unstillbaren Wissensdurst und die Fantasie. Keine leichte Kost, aber eine wunderbare Entdeckungsreise, auch in die Welt der Sprache – ein Gaumenschaus, wenn man die Wörter nicht hastig schluckt, sondern auf der Zunge zergehen lässt und wie ein Weinkenner einen edlen Tropfen die Feinheit des Geschmackes genießt.

Über den Autor

Max Schatz (geb. 1981 in Russland) siedelte 1992 aus Kasachstan nach Deutschland über. Da hatte er schon sein erstes Manuskript auf Russisch geschrieben, den Fantasy-Jugendroman „Ostrow Bandy pjati“ („Die Insel der Fünfer-Bande“), der erst 2019 überarbeitet im russischen Verlag „Sojus pisatelej“ („Schriftstellerverband“) erschien.

Agnes Gossen

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