Liberalismus? Russlands Zukunft

Der prominente Politologe Walerij Solowej geht davon aus, dass sich in Russland früher oder später eine liberale Demokratie durchsetzt. Diesen Sommer zog er sich aus „politischen Gründen“ als Professor der Elite-Uni MGIMO zurück. Zuvor sagte er eine radikale Wende im Land und den Abtritt von Wladimir Putin vor dessen regulärem Amtsende 2024 voraus. Im Gespräch mit der MDZ spricht er über den schlechten Ruf des Liberalismus in Russland.

Präsident Putin hat unlängst in einem Interview mit der „Financial Times“ gesagt, die „liberale Idee“ habe „ausgedient“. Sie stehe „im Widerspruch zu den Interessen des überwiegenden Teils der Bevölkerung“. Wie kommt er zu so einer These?

Sie dürfte auf den uralten Wunsch der Machthaber zurückgehen, der Westen möge unter der Last seiner eigenen Fehler endlich zusammenbrechen. Allerdings leitet Putin das Ende des Liberalismus nur aus einem Aspekt von dessen moderner Interpretation her, dem Multikulturalismus. Dabei geht es bei der liberalen Ideologie im Kern um die Freiheit des Menschen, um Rechtsstaatlichkeit und die Unantastbarkeit des Privateigentums. Diese Grundwerte klammert Putin aus, weil Liberalismus als Lebensweise eine durchaus attraktive Alternative bleibt. Leider hat Boris Johnson, frischgebackener Ministerpräsident Großbritanniens, recht, wenn er anmerkt: Hier werden Urteile vom Oberhaupt eines Landes geliefert, in dem zwölf Prozent der Menschen keine Toilette im Haus haben. 

Walerij Solowej sieht Russland vor einem tiefgreifenden Umbruch stehen. © Anton Denissow / RIA Novosti

Johnson plädiert dafür, im Namen der liberalen Demokratie aus der EU auszutreten. Donald Tusk, der Präsident des Europarates, will um der Werte willen im Gegenteil den Zusammenhalt der EU stärken. Wie passt das zusammen?

Johnson und Tusk gehen von ihrer persönlichen Warte aus. Aber sie stellen die fundamentalen Prinzipien des Liberalismus nicht in Frage. Der russische Präsident dagegen redet von der Krise des Multikulturalismus so, als sei damit die gesamte Ideologie obsolet geworden. Diese Meinung dürfte in Russland ein bedeutender Teil der herrschenden Elite vertreten, die ihren Ursprung dem KGB und dem Zerfall der Sowjetunion verdankt. Im Unterschied dazu scheint die Bevölkerung die Grundsätze der liberalen Demokratie zu teilen, auch wenn sie den Begriff Liberalismus eher nicht mag: Die sogenannten liberalen Reformen der 90er Jahre haben ihn kompromittiert.

Inwiefern?

Die Menschen fragen sich einfach, was die Reformen ihnen gebracht haben: Nutzen oder Schaden? Ungeachtet der Chancen, die sie bot, fügte die Zeit einem Großteil der Gesellschaft enormen Schaden zu, indem der Status quo zerstört wurde.

Ist die russische Wirtschaft liberal?

Der Anteil des Staates an der Wirtschaft ist bei uns vergleichsweise hoch und geht weit über den Keynesianismus, also die kurzfristige Steuerung der Nachfrage durch den Staat, hinaus. Das ist ein Staatskapitalismus, der irgendwie dem deutschen der 30er Jahre ähnelt.

Wird  Patriotismus im heutigen Russland als eine ideologische Alternative zum Liberalismus verkauft?

Liberalismus und Patriotismus sind ziemlich kompatibel. In der Sowjetunion bekannte man sich zum sozialistischen Patriotismus, alles weitere wurde als mangelnde Loyalität bewertet. Der Versuch des heutigen Staates, ein neues ideologisches Minimum auf Basis des Patriotismus zu schaffen, ist aus meiner Sicht eher gescheitert. Dass wir etwas anderes haben, bezweifle ich.

Wäre eine alternative Demokratieform in Russland denkbar?

Ich bin überzeugt, dass sich bei uns in naher Zukunft eine mehr oder weniger entwickelte liberale Demokratie etabliert. Dies wird ein verantwortungsbewusstes außenpolitisches Verhalten unter Konzentration auf die innere Entwicklung sein. Russland wird zwar nach Möglichkeit an der Multipolarität festhalten, sich jedoch dem Westen annähern. Das ist auf Sicht der nächsten 15 Jahre eine sehr reale Perspektive.

Was macht Sie da so sicher?

Die Kenntnis der Geschichte und meine Intuition. Aber mit Blick auf die wachsende Machtkrise führt der Weg nur über radikale Veränderungen.

Das Interview führte Liudmila Kotlyarova.

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