Skandal im (oppositionellen) Lager

Eine seit Langem geführte Debatte hat neuen Auftrieb erhalten, nachdem ein prominenter Menschenrechtler einen bekannten Häftling wegen unangemessenen Verhaltens gerügt hat. Was kann man aus dem Fall Podrabinek – Berkowitsch* lernen?

Eine Szene aus dem Spielfilm „Kalina Krassnaja“ (Roter Holunder), 1974: Ein Chor in einer Strafkolonie singt Volkslieder (Foto: YouTube)

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass einige im oppositionellen Umfeld bekannte Personen andere Oppositionelle scharf kritisieren. Schließlich geht der Kampf um virtuelle Wähler (Unterstützer, Zuschauer und nicht zuletzt um Geldgeber) auch dann weiter, wenn es nicht einmal theoretische Chancen gibt, an Wahlen teilzunehmen. Nutzer sozialer Medien haben in letzter Zeit viele solche Angriffe beobachtet. Der Fall der Filmemacherin Schenja Berkowitsch* (39) fällt jedoch aus der Reihe.

Worum geht es bei dem Skandal?

Dieser Fall unterscheidet sich bereits dadurch, dass beide am Skandal beteiligten Parteien, der von russischen Oppositionskanälen scharf diskutiert wird, nicht im Exil, sondern in Russland sind. Berkowitsch*, die im Juli 2024 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie in ihrem Stück „Finist – Heller Falke“ den Terrorismus „gerechtfertigt“ habe, verbüßt ihre Strafe in einer Kolonie. Ihr Kritiker, der bekannte russische Menschenrechtsaktivist Alexander Podrabinek, lebt in Moskau.

Der Kern der Sache: Schenja Berkowitsch* hat in der Kolonie ein Theaterstück aufgeführt, in dem Häftlinge mitspielen. Laut Podrabinek bot Berkowitsch* einer anderen Gefangenen, Valeria Sotowa (21), die eine Strafe aufgrund eines politischen Artikels verbüßt und „nicht mit der Verwaltung zusammenarbeitet“, die Teilnahme an dieser Laienaufführung an. Mit anderen Worten wirft Podrabinek Berkowitsch* nicht nur die Zusammenarbeit mit der Administration der Strafkolonie vor, die von den Insassen als ethisch inakzeptabel angesehen wird. Er sagt, dass das Angebot an Sotowa, an einer Gefängnisveranstaltung teilzunehmen, einer Provokation gleichkommt.

Der 71-jährige Alexander Podrabinek war selbst Repressionen ausgesetzt. Im Jahr 1978 wurde er wegen „Verleumdung des Sowjetsystems“ zu fünf Jahren Verbannung und anschließend zu dreieinhalb Jahren Haft in einer Kolonie verurteilt. Er kennt das Leben hinter Gittern. Die bloße Teilnahme am Chor der Gefangenen, wie sie zu Beginn des Films „Kalina Krassnaja“ gezeigt wird, würde von anderen Gefangenen als nichts anders als Zusammenarbeit mit der Verwaltung angesehen, so Podrabinek.

Wer darf was wem vorwerfen?

Die Einwände ließen nicht lange auf sich warten. Erstens bestreitet Berkowitsch*, Valeria Sotowa angeboten zu haben, in dem Stück mitzuwirken. Und zweitens betonten viele ehemalige Häftlinge den Unterschied zwischen Männer- und der Frauenkolonien in Russland. Während das Leben in den Männerkolonien oft den Gesetzen der kriminellen Welt unterworfen ist und dort Beziehungen zur Verwaltung sogar von jenen akzeptiert werden, die wegen politischer Gründe einsitzen, ist in den Frauengefängnissen alles anders.

Aber es ist nicht einmal so, dass es einen Unterschied zwischen den Erfahrungen der Frauen und Männer in einer Strafkolonie sowie einen gewissen Unterschied zwischen der Situation in den frühen 1980er Jahren und heute gibt. Dieser Skandal im Lager der Opposition (der Widerhall dieser Geschichte erreichte keine anderen Kreise) hat Fragen aufgeworfen, über die man nachdenken sollte.

Ist es überhaupt angebracht, von zu Hause aus einer inhaftierten Person zu sagen, wie sie sich verhalten soll? Und auch: Ist es anständig, wenn die Opposition im Exil Menschen wegen des „Fehlens einer klar zum Ausdruck gebrachten Haltung“ verurteilt? In diesem Sinne geht die Geschichte über die Teilnahme an einem Gefangenenchor oder einem Theaterstück weit über die Tore der Strafkolonie hinaus.

Igor Beresin

*steht auf der Liste der Extremisten und Terroristen

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: