„Ich weiß, dass die offizielle Position eine andere ist.“ Das hatte der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel vor knapp zwei Jahren gesagt, als er sich für eine schrittweise Lockerung der EU-Sanktionen gegen Russland aussprach – wohlgemerkt unter der Bedingung, dass es in der Ostukraine spürbare Fortschritte im Friedensprozess gäbe. In Erinnerung hieran könnte man annehmen, der frühere Bundesminister würde bei seinem aktuellen Besuch in Moskau eine eher kremlfreundliche Linie einschlagen. Doch das Publikum wurde eines Besseren belehrt.
Seit Anfang des Monats ist Gabriel nicht mehr Mitglied des Bundestags. Er arbeitet jetzt für das Beratungsunternehmen Eurasia Group, seit Juli ist der zudem Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Auf Einladung des Deutsch-Russischen Forums e.V. und der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer (AHK) sprach er über aktuelle globalpolitische Geschehnisse und über das deutsch-russische Verhältnis, über die Verschiebung der globalen Machtarchitektur, den Ukraine-Konflikt und darüber, ob Deutschland eine eigene Russlandpolitik betreiben solle. Er scheute sich dabei nicht, kritische Punkte beim Namen zu nennen.
„Merken wir, dass sich die Machtachsen verschieben?“
Gabriel zog einen historischen Vergleich heran: Das einst stolze Venedig, bedeutender Handelsplatz am Mittelmeer, wurde nach der Entdeckung Amerikas ins Abseits gedrängt, die Handelsströme verlagerten sich auf den Atlantik, Gewinner waren Portugal und England. Mit der wirtschaftlichen Macht sank auch der politische Einfluss. In einer ähnlichen Situation sei gerade Europa, das technologisch von den USA und China abgehängt werde. Er frage sich, ob die Venezianer das damals bemerkt haben? Und ob wir heute bemerken?
In der gegenwärtigen Umbruchsituation sei das globale Kräfteverhältnis diffus, doch die Welt steuere auf ein „G2“ zu, eine von den USA und China als wirtschaftliche und politische Großmächte dominierte Ordnung. Wir seien aktuell nicht in der Lage, Probleme global zu lösen. „Man kann schon beinahe schwermütig werden“, so der frühere SPD-Vorsitzende. Überall seien Tendenzen zu erkennen, dass Probleme nur auf lokaler Ebene angegangen werden, etwa beim Klimawandel und Terrorbekämpfung.
Da die USA sich als Ordnungsmacht zurückzögen, sei es nicht weiter verwunderlich, dass beispielsweise Russland in diese Lücke dränge, wie jüngst in Syrien. Europa sei es nicht gewohnt, sich in der Welt einzumischen. Doch auch Russland sei viel zu sehr darauf fixiert, in politischen Fragen immer erst die Reaktionen der USA abzuwarten. „Wir könnten viel mehr bilateral regeln“, so Gabriel.
Mit Blick auf die Kündigung des INF-Abrüstungsvertrags sprach er von einem „geheimen Lehrplan“ der USA und Russlands, sich nicht gegenseitig „die Waffen zu verbieten“, an den China gerade arbeite. In den USA gebe es zwar politisch einen breiten Konsens darüber, nicht mit Russland zu verhandeln, doch in diversen Think Tanks und bis hinein ins Pentagon gäbe es auch Stimmen, die sich fragen, ob es sinnvoll sei, Russland soweit in die Ecke zu drängen, dass es sich unweigerlich China annähert.
Ukraine-Konflikt: „Ich habe in der Tat Hoffnung“
Das heikelste Thema, das Gabriel ansprach, war der Ukraine-Konflikt. Hier zeigte er klare Kante und bezeichnete die Okkupation der Krim als „schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht“ und sprach von der ersten Grenzverschiebung mittels militärischer Mittel, die Europa seit dem Zeiten Weltkrieg erlebt habe.
Er ging auf seinen Konflikt mit Kanzlerin Angela Merkel ein, der Anfang 2018 Aufmerksamkeit erlangte. Er sei der Überzeugung, dass ein Abzug der schweren Waffen aus der Ostukraine ein erster Grund dafür sei, mit dem schrittweisen Abbau der Sanktionen zu beginnen. Merkel dagegen habe darauf beharrt, dies erst nach der vollständigen Umsetzung des Minsker Vertrags zu tun. „Meine Erfahrung sagt jedoch, dass man schrittweise gehen muss. “ Aufgrund der seitherigen Entwicklungen mit etlichen gebrochenen Waffenstillständen sei man jedoch gegenwärtig weit davon entfernt, überhaupt darüber zu sprechen.
Oft wird als Ursache des Konflikts angebracht, der Westen habe die Sicherheitsinteressen Russlands ignoriert. Gabriel gab zu, dass es seitens der EU „nicht sehr sensibel“ gewesen sei, ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu schließen, während Russland eine Zollunion angestrebt habe. Andererseits sei gerade Deutschland entschieden dagegen gewesen, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, habe sich hier also nichts vorzuwerfen. Zudem rechtfertige das alles keine militärischen Einsätze.
Trotz der verfahrenen Lage wies Gabriel auf Zeichen der Entspannung hin. So wurden am vergangenen Montag die drei ukrainischen Militärschiffe wieder freigegeben, die im vergangenen November in der Straße von Kertsch aufgerieben worden waren. Zudem hege er Hoffnungen auf das für den 9. Dezember geplante Treffen im „Normandie-Format“ zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russands, Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seine Lebenserfahrung sage: „Präsidenten treffen sich erst, wenn schon etwas ausgehandelt ist.“
Er habe zwar keine überschwänglichen Erwartungen, dass der Konflikt bald gelöst werde. Er wäre schon froh, wenn das Schießen in der Ostukraine aufhören würde.
„Keine eigene deutsche Russlandpolitik“
Eine spannende Frage richtete Moderator Hermann Krause, früherer ARD-Korrespondent in Moskau, an Gabriel: „Braucht es eine eigene deutsche Russlandpolitik?“ Der frühere Außenminister gab dem eine klare Absage. „Das würde Europa zerreißen.“ Was würde da Polen sagen? Sicher, deutsche Ideen und Vorstöße seien natürlich legitim, aber immer in Abstimmung mit den europäischen Partnern.
Man müsse die Position eines jeden Landes aus seiner Geografie und seiner Geschichte heraus verstehen und achten. Das Baltikum und Polen hätten natürlich ganz andere Interessen im Umgang mit Russland. Ein deutsch-russischer Alleingang wecke in Polen selbstverständlich negative Assoziationen.
Man müsse sich in der europäischen Politik immer „in die Schuhe der Schwächsten stellen“, um die Union zusammenzuhalten, um die Basis für eine gemeinsame Position zu erörtern. Bei der Flüchtlingspolitik sei das etwa Griechenland, bei der Finanzpolitik Südeuropa und bei der Sicherheitspolitik eben die osteuropäischen und die baltischen Staaten. Man dürfe nicht so tun, als müsse jeder in Europa die gleiche Position vertreten. Dazu neige man aus deutscher Sicht schnell, da man als Zentralmacht einen ganz anderen Blick habe.
Ein entschiedenes Plädoyer für Europa im Herzen Russlands.
Jiří Hönes