Notruf: Darüber spricht Russland

„Die Dummköpfe und die Straßen“ sind laut einem Aphorismus Russlands klassische Probleme. Was jedoch die Russen gerade besonders bewegt, hat die MDZ-Redaktion in kollektiver Arbeit zusammengetragen.

Anastassija Buschujewa zu Jugendsuiziden

Derzeit vergeht kein Tag, ohne dass die russische Presse sogenannte „Todesgruppen“ in den sozialen Netzwerken thematisiert. In spielerischer Form umgeben sie Selbstmorde mit einem Schleier aus Auserwähltheit und Rätselhaftigkeit und sprechen damit besonders Kinder und Jugendliche an, die etwa an Problemen in der Familie oder Liebeskummer leiden und anfällig für das Thema sind. Unter dem Einfluss der Internetinhalte hätten sich bereits 800 junge Menschen in ganz Russland das Leben genommen, berichtet der Fernsehsender „Rossija“. Die breite Öffentlichkeit erfuhr von der Existenz der Gruppen erstmals durch einen Artikel in der „Nowaja Gaseta“, der im Frühjahr 2016 ein großes Echo auslöste. Die Journalisten hatten selbst in dem Milieu recherchiert.

Das geheimnisumwitterte „Spiel“ wurde unter dem Namen „Blauwal“ bekannt – in Analogie zu den majestätischen und wunderschönen Säugetieren, von denen immer wieder Exemplare am Meeresufer stranden und verenden. Zur Ikone der Szene haben die Hintermänner der Gruppen ein Mädchen aus Ussurijsk im äußersten Osten Russlands aufgebaut, das sich im Herbst 2015 auf Bahngleisen überfahren ließ. Zuvor postete sie auf ihrer Seite im Sozialnetzwerk VKontakte ein letztes Selfie vor einem Güterzug und verabschiedete sich zuckersüß mit einem Wort aus der Anime-Kultur.

Um „mitspielen“ zu können, müssen die Jugendlichen Wale zeichnen und auf ihren Seiten um Aufnahme in die „Todesgruppen“ bitten. Anschließend setzen sich Kuratoren mit ihnen in Verbindung und stellen ihnen bestimmte Aufgaben, deren Erfüllung wiederum den Zugang zu neuen Inhalten rund um das Thema Sterben öffnet.

In der russischen Staatsduma wird inzwischen die Verschärfung von Strafen für Beihilfe zum Selbstmord diskutiert.


Peggy Lohse über Wohnraumverfall

Ein Blick in die Regionalnachrichten: Anfang Februar stürzt ein Wohnhaus in Omsk ein, zum Glück ist es nicht mehr bewohnt. In Dserschinsk bei Nischnij Nowgorod müssen Mitte Januar mehr als 150 Bewohner eines Hauses evakuiert werden, weil das Fundament des Wohnblocks Baujahr 1976 nachgegeben haben soll und sich Risse durch die tragenden Wände ziehen. Bei einer Gasexplosion in einem Haus in Rjasan werden im vergangenen Oktober zwei Stockwerke zerstört, sieben Menschen sterben. Zuvor ist die Zentralheizung ausgefallen, so dass sich die Leute mit Gas beholfen haben.

Das sind keine Einzelfälle. Die Bausubstanz russischer Wohnhäuser ist weitgehend in einem schlechten Zustand. Speziell in Wahlkampfzeiten gehen Menschen überall in Russland auf die Straße, weil ihre Häuser verfallen und sie dem Staat die Schuld daran geben.

Nach Medienberichten gelten landesweit mindestens drei Mil­lionen Quadratmeter Wohnfläche als einsturzgefährdet. Sergej Stepaschin, Vorsitzender des Staatsunternehmens zur Reform der Wohnungswirtschaft, gab bei einer Konferenz in Saratow Mitte Februar an, dass derzeit 800 000  Menschen in als unbewohnbar eingestuften Gebäuden leben. Gleichzeitig sagte er zu, dass bis Mai 2017 knapp eine Million Menschen in besseren Wohnungen untergebracht werden. Ein mutiges Versprechen.


 Katharina Lindt zur Abtreibungsdiskussion

Russland war 1920 das erste Land der Welt, das Abtreibungen legalisiert hat. Es ist auch das Land, das weltweit die Abtreibungsstatistik anführt. Waren es Anfang der 90er  Jahre noch drei Millionen Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr, sind es heute laut Rosstat allerdings nur noch knapp 900.000, die jährlich registriert werden. Auch wenn die Zahlen sinken, bleibt Abtreibung eine gängige Alternative zur Verhütung. Insbesondere bei Frauen zwischen 30 und 50, die bereits eine Geburt hinter sich haben. Junge Frauen treiben dagegen seltener ab.

Dass man in Russland Abtreibung nicht so leicht verbieten kann, mussten sowohl die orthodoxe Kirche als auch die neue russische Kinderbeauftragte Anna Kusnezowa einsehen, die im Herbst entsprechende Vorstöße unternahmen. Kusnezowa, sechsfache Mutter, sprach sich nach ihrer Ernennung für das Verbot aus, „die gesamte zivilisierte Welt“ sei gegen Schwangerschaftsabbrüche. Kirchen­patriarch Kirill unterschrieb eine Petition zu Gunsten des Verbots. Die Duma diskutierte einen Gesetzentwurf, der Abtreibungen von der staatlichen Krankenversicherung streichen sollte. Am Ende blieb der Status Quo: uneingeschränkt und kostenlos.

Das Institut für Demografie in Russland schätzt, dass materielle Not der häufigste Grund für den Schwangerschaftsabbruch ist. Darauf hat die Regierung bereits reagiert: Bei der Geburt des zweiten und dritten Kindes gibt es eine einmalige Zuwendung von bis zu 47.000 Rubel, je nach Region. Seit 2015 steigt die Geburtenrate wieder.


Ljubawa Winokurowa zu HIV-Infektionen

Das staatliche russische „Zentrum zur Prophylaxe und Bekämpfung von Aids und Infektionskrankheiten“ lässt Zahlen sprechen. Demnach sind in Russland mehr als eine Million Menschen mit HIV infiziert – jedes Jahr werden es bis zu zehn Prozent mehr. Am Tag sterben durchschnittlich 50 bis 60 Menschen an der Krankheit.

Bereits 2015 hatte die UNO einen Bericht vorgelegt, dem zufolge Russland bei HIV-Neuinfizierungen vor den weitaus meisten Ländern der Erde liegt, darunter auch den afrikanischen. In aller Munde war das Thema jedoch erst, als im November 2016 aus der Millionenstadt Jekaterinburg eine Aids-Epidemie gemeldet wurde. Das Gesundheitsamt teilte mit, dass nahezu jeder 50. Einwohner mit HIV infiziert ist. Laut Verbraucherbehörde Rospotrebnadsor ist die Schwelle von mehr als einem Prozent Erkrankten pro Region in fast 20 russischen Provinzen überschritten. Zu den Spitzenreitern des Anti-Ratings gehören die Gebiete Samara und Swerdlowsk, wo mehr als zwei Prozent der Schwangeren HIV-positiv sind.

Im Oktober verabschiedete die russische Regierung zum ersten Mal eine Strategie zum Kampf gegen die Ausbreitung von HIV. Das Programm läuft bis 2020 und sieht vor allem Maßnahmen zur Aufklärung und Vorbeugung vor. Das Internetportal Lenta.ru hat errechnet, dass der Staat sich eine effektive Eindämmung des Problems nicht weniger als 100 Mil­liarden Rubel im Jahr kosten lassen müsste. Im laufenden Jahr werden 18 Milliarden Rubel an Staatsmitteln zur Verfügung gestellt.


Olga Silantjewa über Alkoholersatz

Weißdornextrakt ist gut für die Gesundheit. Mit Alkohol versetzt und in Fläschchen abgefüllt, wird er in der Apotheke verkauft und soll eine positive Wirkung auf Herz und Nerven haben. Das hängt allerdings davon ab, was noch alles in der Flasche ist. Weit über die Landesgrenzen hinaus machte im Dezember 2016 die Nachricht Schlagzeilen, dass in Irkutsk unweit des Baikalsees 78 Menschen an einer Alkoholvergiftung gestorben waren – sie hatten eine Flüssigkeit getrunken, die unter dem Namen „Bojaryschnik“ (Weißdorn) als Badezusatz ausgewiesen war. Der enthaltene Weißdorn dürfte für die Kunden eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die auf dem Etikett angegebenen bis zu 93 Prozent Ethanol waren der Grund für die Beliebtheit des Mittels.

Der Fall hat den Blick wieder einmal auf die Ausmaße des Konsums von Alkoholsurrogaten in Russland gelenkt. Von Kosmetik über Scheibenreiniger bis hin zu Bremsflüssigkeit kann alles, was alkoholhaltig ist, für Alkoholabhängige zu einer billigen Wodka-Alternative werden. Im vergangenen Jahr ergab eine repräsentative Umfrage der Moskauer Higher School of Economics, dass 13 Prozent der Befragten Bekannte haben, die zu unter dem Deckmantel von Arznei oder Lotions angebotenen Surrogaten greifen. Der Markt dafür ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres kam es laut Rospotrebnadsor in Russland zu 36.000 akuten Alkoholvergiftungen. Für 9.000 Menschen endeten sie tödlich.


Tino Künzel über Doping

Als Anfang März in Belgrad die Leichtathletik-Hallen-EM stattfand, durfte aus Russland lediglich Weitspringerin Darja Klischina starten – und auch das nur unter neutraler Flagge. Die Russen stehen seit zwei Berichten der Weltdopingagentur WADA vom Juni und Dezember 2016 am Doping-Pranger. Mehr als 1.000 russische Sportler sollen demnach in Manipulationen mit ihren Dopingproben verwickelt gewesen sein. Russland bestreitet den von der WADA erhobenen Vorwurf eines staatlich gelenkten Dopingsystems. Präsident Wladimir Putin räumte jedoch zuletzt ein, die eigene Dopingkontrolle habe „versagt“, das sei „unsere Schuld“. Gerade wird ein unabhängiges neues Dopinglabor an der Moskauer Lomonossow-Universität eingerichtet.

Derweil rächen sich zumindest vergangene Sünden. Jüngst wurden 21 russischen Sportlern ihre Medaillen der Olympischen Spiele 2008 und 2012 aberkannt. Zudem verliert Russland reihenweise Wettkämpfe, so wie zuletzt die für 2021 in Tjumen geplante Biathlon-WM.

 

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: