In der russischen Staatsduma herrscht bei den großen Fragen traditionell Geschlossenheit. Das Verhältnis zum Westen, die „Sonderoperation“ in der Ukraine und die russische Armee gehören zu diesen Fragen. Wenn sie auf der Tagesordnung stehen, pflegen auch die Fraktionsführer der sogenannten „Systemopposition“ zu demonstrieren, wie sehr sie hinter der gemeinsamen Linie stehen – und zu versuchen, sich gegenseitig dabei zu übertrumpfen. Nach dem Ersteinsatz der ballistischen Mittelstreckenrakete „Oreschnik“ am 21. November, der westliche Militärs offenbar völlig unvorbereitet traf und in den russischen Staatsmedien tagelang das beherrschende Thema war, freute man sich in der Duma über den gelungenen Coup.
Eine Rute für „Aggressoren“
Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland/Patrioten/Für die Wahrheit“, erschien in einem T-Shirt mit dem Konterfei von Präsident Wladimir Putin. Der Aufdruck enthielt auch ein Wortspiel, das auf den russischen Titel des Films „Stirb langsam“ verwies. Die Assoziationen noch weiterzutreiben, bereitete Mironow sichtlich Vergnügen. Von alters her habe in Russland Ruten zu spüren bekommen, wer nicht hören wollte, darunter auch von Haseln (Oreschnik). Weiter sagte der 71-jährige Politiker, er sei stolz auf den „Oberkommandierenden, der nicht mit leeren Worten um sich wirft“.
Gennadi Sjuganow von den Kommunisten meinte, die neuartige Waffe habe viele zur Besinnung gebracht. Auch habe sie gezeigt, wie verwundbar die „Aggressoren, die einen Krieg gegen die russische Welt angezettelt haben“, seien. Rosa Tschemeris, Abgeordnete der „Neuen Leute“, vertrat die These, „Oreschnik“ habe den „Krieg verändert“. Die „gesamte westliche Welt“ müsse einsehen, dass „die Ukrainer nicht mehr als lebendiges Schutzschild und die Ukraine als Instrument zur Lösung geopolitischer Aufgaben“ missbraucht werden könnten.
„Absolut eindeutige Botschaft“
Leonid Sluzki als Chef der LDPR sprach davon, Putin sei zu einer „Figur von Weltrang und in der Menschheitsgeschichte“ geworden. Er habe „das irrwitzige Abrutschen der Weltordnung in einen Dritten Weltkrieg gestoppt“. Ähnlich äußerte sich auch der Parlamentsvorsitzende Wjatscheslaw Wolodin von der Regierungspartei „Einiges Russland“. Er dankte den „Oreschnik“-Entwicklern. Sie hätten ein „Schutzschild für unsere Heimat“ geschaffen, das zudem dem „Frieden auf der ganzen Welt“ diene.
Aus den Reihen von „Einiges Russland“ ergriff außerdem der Politologe Wjatscheslaw Nikonow das Wort. Mit „Oreschnik“ habe Russland eine „absolut eindeutige Botschaft“ gesandt: „Wir werden Infrastruktur zerstören, und nicht nur ukrainische, denn die Botschaft ist auch an die Westmächte gerichtet, die jegliche Gottesfurcht verloren haben. Die sollen bloß nicht sagen, wir hätten sie nicht gewarnt.“
800 Kilometer in 15 Minuten
Nach allem, was man weiß, war die Hyperschallrakete am Morgen des 21. November vom Militärgelände Kapustin Jar in der südrussischen Region Astrachan am Kaspischen Meer gestartet. 15 Minuten später schlugen ihre sechs Gefechtsköpfe in einer Maschinenbaufabrik im 800 Kilometer Luftlinie entfernten ukrainischen Dnepr ein. Wie Lenta .ru schreibt, habe in Europa noch nie eine militärische Rakete eine solch große Distanz zurückgelegt. Nach russischen Angaben kann „Oreschnik“ dabei eine zehnfache Schallgeschwindigkeit erreichen. „Das sind 2,5 bis 3 Kilometer in der Sekunde“, sagte Putin in einer Fernsehansprache.
Im Gegensatz zu Marschflugkörpern, die von mobilen Trägern abgefeuert werden und in geringer Höhe mit eigenem Antrieb ihr Ziel ansteuern, steigen ballistische Raketen zunächst in große Höhe auf. Von dort kehren sie dann unter Nutzung der Schwerkraft zur Erde zurück. „Oreschnik“ könne von heutigen westlichen Waffen nicht abgefangen werden, das sei „ausgeschlossen“, erklärte Putin.
Auch atomar bestückbar
Der verursachte Schaden hielt sich in Dnepr in Grenzen. Allerdings gehen Beobachter davon aus, dass ohnehin das politische, nicht militärische Signal im Vordergrund stand. In ersten Kommentaren vermuteten westliche Experten, dass es sich bei „Oreschnik“ um eine Weiterentwicklung des Systems RS-26 „Rubesch“ handelt. Russland spricht dagegen von etwas völlig Neuem. Wie Präsident Putin sagte, sei die Serienfertigung bereits angelaufen.
„Oreschnik“ kann sowohl mit konventionellen als auch atomaren Sprengköpfen bestückt werden. Ein massierter Angriff konventioneller Art könne dabei durchaus dem Zerstörungspotenzial von taktischen Atomwaffen entsprechen, heißt es. In der atomaren Ausführung sind 900 Kilotonnen als Obergrenze angegeben. Das käme der Wirkung von 45 Hiroshima-Atombomben gleich.
Tino Künzel