Eine gefährliche Liebe

Viele haben Russland in den letzten Wochen verlassen, Joseph Brömel ist immer noch da. Der Student aus Gießen hat Anfang Februar ein Auslandssemester in Kasan angetreten, gut 700 Kilometer östlich von Moskau. Wie es ihm seitdem ergangen ist, erzählt er hier.

Der Autor in der Bauman-Straße, Kasans beliebter Fußgängerzone (Foto: Privat)

Ich sitze in einem russischen Oberleitungsbus und habe keine Fahrkarte. Es ist der 8. Februar, ich bin gerade erst angekommen in Kasan und nutze zum ersten Mal den Nahverkehr. Die Fahrkarte muss, wie sich herausstellt, im Bus selbst bei einem sogenannten Konduktor erworben werden. In der Linie 8 ist das ein gesprächiger Tadschike mittleren Alters. Er spricht Englisch und zeigt großes Interesse an mir; statt der fälligen 35 Rubel unterhalten wir uns eine halbe Stunde. Irgendwann fragt er mich, was ich denn als Deutscher in Russland wolle. Ich liebe Russland, seine Kultur, seine Literatur, seine Sprache, erwidere ich. Es ist eine gefährliche Liebe, antwortet er mir.

Als ich Freunden und Familie zu Hause in Deutschland eröffnet hatte, dass ich für ein Auslandssemester nach Kasan gehen würde, waren meist fragende Blicke die Reak­tion gewesen. „Russland“, hatte ich dann nachgeschoben, „Kasan liegt an der Wolga“.

Aber warum ausgerechnet Osteuropa und nicht etwa Spanien oder Großbritannien? Wer mich ein bisschen kennt, der weiß die Antwort. Seit ich mit 16 „Schuld und Sühne“ gelesen habe, lässt mich diese Region nicht mehr los. Statt einer Spielekonsole oder einem neuen Fahrrad wünschte ich mir zu Weihnachten eine Monographie über die Romanows. Während Mitschüler diverse Streamingdienste für sich entdeckten, verschlang ich Tschechow, Tolstoi und Gontscharow. Osteuropäische Geschichte und Fachjournalistik Geschichte zu studieren, war für mich irgendwann der logische nächste Schritt. Für das Studium zog ich aus dem thüringischen Saalfeld ins hessische Gießen. Dort begann ich auch Russisch zu lernen, was für Teile meiner in der DDR sozialisierten Familie nicht ganz nachvollziehbar war; die Sprache Puschkins und Lermontows galt ihnen vielfach noch als Besatzersprache.

Die größtmögliche Herausforderung

Nun also ein Auslandssemester. Auch Kiew wäre dafür eine Option gewesen. Im Sommer vorigen Jahres habe ich bereits zwei Wochen in der Ukraine verbracht. Russland scheint mir in verschiedener Hinsicht die größere Herausforderung. Es ist weiter weg, nur mit Visum zu erreichen. Und auch ins Englische werde ich mich dort seltener flüchten können. An der Universität von Kasan, wo schon Tolstoi und Lenin studiert haben, wird ausschließlich auf Russisch gelehrt. Ich bin 23. Wann, wenn nicht jetzt, sollte ich versuchen, über mich hinauszuwachsen?

Kasan ist die Hauptstadt von Tatarstan. Die Region ist zweisprachig und ein wichtiges muslimisches Zentrum innerhalb Russlands. Durch die schneidende Kälte des russischen Winters höre ich den Ruf des Muezzins, während mein Blick auf einem neoklassizistischen Protzbau der Stalinzeit hängen bleibt, an dessen Fassade Hammer und Sichel prunken. Goldene Kuppeln orthodoxer Kirchen leuchten zwischen den riesigen Plattenbauten der sechziger und siebziger Jahre hervor. Im Supermarkt entdecke ich Nudelsoße der Marke „Onkel Wanja“ und als begeisterter Leser der Werke Tschechows kaufe ich sie natürlich. Selbstverständlich gibt es eine Puschkinstraße und eine russische Bekannte erklärt mir lächelnd, dass man sich in Kasan bei nicht bestandenen Prüfungen damit tröstet, auch der große Lew Tolstoi habe die Uni ohne Abschluss verlassen.

Einmal pro Woche ist im Leninpark von Kasan Trödelmarkt. (Foto: Joseph Karl-Friedrich Brömel)

Ich schlendere über den Bauman-Boulevard. Ein Straßenmusiker singt Lieder der Band Kino und ich genieße es, den Passanten zu lauschen. Die russische Sprache erscheint mir oft wie ein sprudelndes Bächlein: Rasch fließt sie dahin, mit verspielten Wirbeln und nicht ohne Stromschnellen.

Am 22. Februar werden die Coro­namaßnahmen in Tatarstan weitgehend abgeschafft. Der 23.  Februar ist den Verteidigern des Vaterlandes gewidmet und ein Feiertag in Russland. Am nächsten Morgen weckt mich mein Mitbewohner mit der Nachricht, dass russische Streitkräfte die Grenze zur Ukraine überschritten hätten.

Gehen oder Bleiben? Abwarten!

Wir beginnen, in zwei Welten zu leben: Einerseits sind da die Schlagzeilen im In- und Ausland, die Ausreisen, die Sanktionen. Andererseits geht das Leben in Kasan nahezu unverändert weiter. Doch langsam beginnen sich die Überschneidungen der Parallelrealitäten zu zeigen: An Russland gebundene Stipendien werden aufgekündigt, Länder wie Frankreich rufen alle Staatsbürger zur Ausreise auf. Westliche Unternehmen schließen ihre russischen Filialen, ausländische Kreditkarten funktionieren bald nicht mehr. Aber es lohnt sich auch der Blick über den Tellerrand: Während viele westliche Kommilitonen in ihre Heimatländer zurückkehren, kommen Studenten aus der Türkei, aus dem Iran, aus China zum Teil gerade erst an.

Ich schwanke zwischen Gehen oder Bleiben. Meine Lage erlaubt mir mehr Eigenverantwortung als anderen. Mein Stipendium ist nicht an einen Aufenthalt in Russland geknüpft und wird deshalb weiterhin ausgezahlt, meine Heimatuniversität legt mir eine Ausreise zwar nahe, überlässt die endgültige Entscheidung aber mir selbst. Ich beschließe, vorerst abzuwarten.

Russland ist ein Agrarstaat mit bekanntermaßen großen Rohstoffvorkommen, ich werde also weder verhungern noch erfrieren. Nach meinem Abitur habe ich durch meinen Freiwilligendienst bei einer NGO ein Jahr in einem indischen Dorf im Himalaya gelebt; Ohne schwedische Möbel und amerikanischen Kaffee auszukommen, ist mir also nicht ganz fremd. Außerdem ändern die neuen Umstände nichts an den Gründen, weshalb ich hier bin. Ich bin ein Gast, sollte ich unerwünscht sein, wird man mich schon darauf hinweisen.

Studieren auf russische Art

Meine russischen Kommilitonen bringen mir freundliche Neugier entgegen und leichte Verwunderung, dass ich nicht ausgereist bin. Während die Schneeschmelze einsetzt, entwickelt sich so etwas wie eine neue Normalität. Das Studium verlangt nicht nur wegen der russischen Sprache meine volle Konzentration. Es ist anders als in Deutschland.

In Russland gibt es feste Gruppen, feste Lehrpläne, weniger Entscheidungsfreiheit, die Seminare sind mehr auf reine Wissensvermittlung ausgelegt. Inhalte müssen scheinbar zunächst ausdauernd und diszi­pliniert auswendig gelernt werden, um später, von dieser Basis aus, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Das mir vertraute deutsche System folgt einem diskursiveren Ansatz; man setzt sich auf einer Textgrundlage mit einer Thematik auseinander und kann so relativ schnell seine Schlüsse ziehen. Allerdings lässt man dabei vielleicht einen wichtigen Aspekt außer Acht, was im russischen System unwahrscheinlicher ist. Sicherlich haben beide Ansätze ihre Vorzüge, aber das Vertraute liegt mir dann doch näher.

So feiert man den Sieg

Am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“, fahre ich mit der Metro zum Ort der Parade. Ich hole eine Freundin ab, wir folgen dem Strom der Menschen, schlendern durch die Straßen, vorbei an Fahnen und Sternen, passieren eine Absperrung. Der Himmel ist wolkenlos-strahlend, nach kühlen, regnerischen Wochen. Doch es bleibt ein mulmiges Gefühl, ein Misstrauen dem Licht, der Wärme, den bunten Farben gegenüber, wie ein fernes Donnergrollen.

Immer mehr Menschen nehmen auf den Hängen des Kremls Platz, der Tribüne gegenüber. Ein kleines bezopftes Mädchen hat ein Schiffchen auf dem Kopf, darauf prangen Hammer und Sichel, ebenso auf dem Fähnchen in ihren Händen. Ein kleiner Junge sitzt reglos auf den Schultern seines Vaters, seine Plastik-Kalaschnikow vergessend. Wartende Soldaten auf der Straße beginnen sich zu formieren. Auf einem riesigen Bildschirm erscheint die Uhr des Kasaner Kremls, eine Glocke schlägt, wichtige Besucher werden begrüßt. Dann die Übertragung vom Roten Platz in Moskau. Kalt soll es dort sein.

In Kasan ertönt die Nationalhymne. Vielleicht liegt es an der Atmos­phäre, vielleicht habe ich einen Sonnenstich: Während die Soldaten aufmarschieren, Panzer, Oldtimer, Tänzer vorüberziehen und melancholische sowjetische Lieder gespielt werden, muss ich plötzlich an einen Sommer in Mecklenburg denken. Im beschaulichen Ludwigslust besuchte ich eine ungewöhnliche Kirche. Außen gleicht sie einem antiken Tempel, innen herrscht monumentaler Prunk, Ausdruck der Macht und Größe des Herzogs, der sie im 18. Jahrhundert erbauen ließ. Allerdings ist die gesamte Ausstattung, bis hin zum Dekor und den Kerzen, aus Pappmaché.

Joseph Karl-Friedrich Brömel

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