Russische Künstler und der Preis einer Gegenstimme

Was heißt es für russische Künstler, sich kritisch zum Militäreinsatz in der Ukraine zu äußern oder aber den Weg in die Emigration anzutreten? Begebenheiten aus einem Land, das keinen Widerspruch duldet.

Harte Landung: Iwan Urgant als Karlsson in „Begebenheiten im Land Multi-Pulti“ (Foto: Screenshot Filmszene)

Am letzten Tag des alten Jahres hatte im russischen Streamingdienst Kion ein Film Premiere, auf den die Tochter des Mobilfunkbetreibers MTS mächtig stolz gewesen sein dürfte. Die Eigenproduktion „Begebenheiten im Land Multi-Pulti“ ist nicht nur hochkarätig besetzt, sondern auch ein Kunststück im wahrsten Sinne des Wortes. Das musikalische Märchen von 1973 kam 1982 in einer Rekordauflage als Schallplatte heraus. Mit der jetzigen Verfilmung wird der Stoff bis ins kleinste Detail im Stil der damaligen Zeit umgesetzt.

Die Handlung versammelt bekannte Trickfilmhelden der 1970er und 1980er Jahre wie Hase und Wolf, Tscheburaschka und das Krokodil Gena. Das Gute gewinnt, auch wenn die Lage zwischenzeitlich hoffnungslos erscheint. Doch Freunde lassen einander nicht im Stich.

Die kürzeste Filmpremiere der Welt

Eine der Hauptrollen als Karlsson auf dem Dach spielt der Schauspieler, Sänger und Moderator Iwan Urgant (44). Er hat den Film auch mitproduziert. Die geniale Retro-Masche trägt seine Handschrift. Damit war er bereits in den beiden vergangenen Jahren überhaus erfolgreich. Vor und hinter der Kamera zeichnete er für die Show „Ciao“ verantwortlich, eine Parodie auf die berühmten italienischen Musikfestivals der Achtziger und die Silvesterprogramme im sowjetischen wie auch später im russischen Fernsehen. Aktuelle russische Songs werden bei „Ciao“ so intoniert, wie sie vor 40 Jahren auf Italienisch geklungen hätten. Musikalisch wie optisch ein moderner Fernsehklassiker ohne ein einziges Wort auf Russisch. Der größte Beifall dafür kam aus Italien.

Auch „Begebenheiten im Land Multi-Pulti“ wird mehrheitlich gelobt. Doch gesehen haben den Film nicht viele. Kion nahm ihn wenige Stunden nach Erscheinen kommentarlos wieder von der Seite. Zu den Gründen hat sich der Dienst bis heute nicht geäußert. Da jedoch davon auszugehen ist, dass man schwerlich von sich aus einen Rückzieher gemacht und sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hat, wird allgemein eine äußere Einflussnahme angenommen. Weil der Inhalt des Märchens aber kaum Anstoß erregt haben kann, muss es um Personalien gehen.

Ein Post und seine Folgen

Urgant hatte am 24. Februar 2022, als Russland seine „Sonder­operation“ in der Ukraine ausrief, in einem kurzen Post sein Nein dazu erklärt und von „Angst und Schmerz“ gesprochen. Das halten ihm in der Heimat viele bis heute vor. Seine populäre Late-Night-Show „Abendlicher Urgant“, die seit 2012 im „Ersten Kanal“ lief, wurde am 21. Februar zuletzt ausgestrahlt (Folge 1603). Der Sender begründete das zunächst damit, auf Unterhaltungsformate bis auf Weiteres zu verzichten. Tatsächlich bestand das Programm über Monate nur aus Nachrichten und Polit-Talkshows, doch nach und nach kehrten auch andere Sendungen zurück. Nicht so Urgants Late Night.

Dabei hatte der Spross einer Künstlerfamilie, Hauptdarsteller der „Jolki“-Neujahrskomödie von 2010 und ihrer zahlreichen Sequels, es über viele Jahre geschafft, politische Antagonismen mit Humor und Liebenswürdigkeit wegzumoderieren. Doch wenige Worte haben gereicht, ihn arbeitslos zu machen. Die angekündigte Rückkehr auf den Bildschirm ist gescheitert.

Theater feuert seinen Voland

Auch Dmitri Nasarow (65) ist ein Star in Russland. Den vielbeschäftigten Theater- und Filmschauspieler kennt das breite Publikum unter anderem aus der TV-Comedy-Serie „Küche“. Doch seit dem 24. Februar hat Nasarow sich auf seinem Youtube-Kanal in Gedichtform regelmäßig und unmissverständlich mit der Situation im Land auseinandergesetzt. Das war offenbar unerhört.

Vom Moskauer Künstlertheater, wo er etwa den Voland in „Der Meister und Margarita“ gab, wurde der vielfach ausgezeichnete Mime jetzt entlassen. Zuvor war in der Uralstadt Nischni Tagil eine Premiere abgesagt worden, an der er mitwirken sollte. Das Theater begründete das mit Unverständnis des Publikums für seine Haltung, die in einem Artikel der Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ als „antirussisch“ bezeichnet wird.

Nasarow kommentierte seine Entlassung wiederum in Gedichtform. Er begrüßte den „frischen Wind“, der mit der „neuen Realität“ einhergehe, und wollte sich nicht als Opfer sehen: „Man hat uns Unterwürfigkeit bis zu den Mandeln eingebleut, zusammen mit übelriechender Angst. Auch ich habe Kommandos ausgeführt, wozu man mich von klein auf erzogen hat.“

Künstlerkollegen von Urgant und Nasarow haben derweil mit der Absage von Konzerten zu kämpfen, einige wurden auch zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Diejenigen, die Russland aus innerem Protest oder mit Blick auf mögliche Konsequenzen verlassen haben, werden nicht nur in sozialen Netzwerken des „Verrats“ beschuldigt. Der Duma-Abgeordnete Dmitri Gussew schlug neulich vor, ihre Namen in Filmen mit einem entsprechenden Verweis zu versehen. Die Abgeordnete Jelena Drapenko sprach sich ihrerseits dafür aus, missliebigen Künstlern staatliche Auszeichnungen wieder abzuerkennen. 

Tino Künzel

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