Rasender Stillstand

Mehr als Apathie, Rückschritt und Lethargie: Eine Ausstellung in der Tretjakowgalerie räumt mit angestaubten Klischees über die sowjetische Kunst der sogenannten Stagnationsära auf.

Surreales Spiel mit sowjetischen Bilderwelten: Die Jugend von Ernst Muldaschew aus dem Jahr 1978. (Foto: Tretjakow-Galerie)

Eine kriselnde Wirtschaft, alte Männer im Kreml, die wie aus der Zeit gefallen wirken und immer längere Schlangen vor den Geschäften: Die Zeit zwischen den späten 1960er Jahren und den Reformen von Michail Gobatschow wird auf Russisch oft mit dem Wort Sastoi – Zeit des Stillstands ­– beschrieben. Der ­Sowjetunion fiel es von Jahr zu Jahr immer schwerer, den bescheidenen Wohlstand ihrer Bürger zu garantieren, wichtige Reformen wurden verschlafen, Lethargie und Apathie machten sich breit.

Aufbruch im Stillstand

Doch die bleiernen Stagnationsjahre hatten auch eine andere, produktive Seite: Wegen der verblassenden Zugkraft der kommunis­tischen Ideologie wandten sich Maler und Künstler zunehmend von der offiziellen Kunst ab und flüchteten sich in Traumwelten oder machten sich auf die Suche nach neuen, individuellen Darstellungs- und Ausdrucksformen. Den Ergebnissen dieses künstle­rischen Auslotens ist nun die Ausstellung „Nicht für immer. Die Kunst der Sastoi-Zeit“ gewidmet, welche gegenwärtig in der Tretjakow-Galerie gezeigt wird. Für die Schau haben die Ausstellungsmacher um Kurator Kirill Swetljakow mehr als 500 Gemälde und Bilder aus den Jahren zwischen 1968 und 1985 zusammengetragen, um dem komplexen Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Massenbewusstsein nachzugehen. In sozialen Medien wie Facebook wird „Nicht für immer“ von Usern förmlich mit Lob überschüttet. Die Bilderschau ist der zweite Teil einer dreiteiligen Ausstellungsreihe über die sowjetische Nachkriegskunst von der sogenannten Tauwetter-Zeit bis zur Perestrojka. Gleich zu Beginn des Rundgangs können die Besucher direkt in die Atmospähre der späten Breschnew-Jahre eintauchen: Mit Wandbildern des Generalsekretärs, schweren roten Teppichen und einer Schrankwand in dunklen Brauntönen haben die Kuratoren den Ausstellungssaal „Ritual und Macht“ ganz im Stil der Zeit gestaltet. Offizielle Kunst wie stolze Bäuerinnen oder ein Mosaik der Kulturministerin Furzewa sind zu bestaunen.

Ironische Sozart

Ironischer geht es im nächsten Teil „Sozart“ zu, wo die Künstler mit der Ästhetik der früher allgegenwärtigen offiziellen Losungen spielen. Doch statt heroischer Aufrufe zu neuen Höchstleistungen gibt es Plakate mit der lakonischen Aufschrift „Ihnen geht es gut“ oder einen tatsächlichen Eisernen Vorhang, der in Form einer verrosteten Metallplatte von der Decke hängt. Im nächsten Saal „Religiöser Mystizismus“ ist zu sehen, wie die Maler sich mit dem offiziell verpönten Glauben auseinandersetzten. Ob dabei jede Kirchenkuppel gleich für eine fundamentale Systemkritik steht, wie es die Ausstellungsmacher nahelegen, muss allerdings wohl dahin gestellt bleiben. Im Ausstellungsabschnitt „Dorf“ geht es um das Leben auf dem Land, das viele Künstler und Schriftsteller als unverfälschte Alternative zu Kommunismus und Kollektivismus der Städte idealisierten. Der Bereich „Kindheit“ ist der Abkehr von den immer gleichen Darstellungen optimistischer Pioniere gewidmet, der Themensaal „Gesellschaft“ verdeutlicht die Rolle inoffizieller Zirkel, in denen sich die nichtöffentliche Kunst überwiegend abspielte. Abgeschlossen wird die Schau mit den Themenkomplexen „Stillstehende Zeit“ und „Verschwinden“, die sich mit dem Interesse an russischer, nicht offizieller Geschichte und der Flucht in fiktive Welten beschäftigt. Die Ausstellung kann noch bis zum 11. Oktober besichtigt werden.

Birger Schütz

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