Akte Uljukajew: Rätselraten und Spekulationen

Die Korruptionsvorwürfe gegen den nunmehr ehemaligen Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sind so schockierend wie in Details unglaubwürdig. In Ermangelung von handfesten Informationen floriert die Kremldeutung.

2974361 10.10.2016 10 октября 2016. Президент РФ Владимир Путин, главный исполнительный директор ПАО "НК "Роснефть" Игорь Сечин и министр экономического развития РФ Алексей Улюкаев (справа налево) перед началом встречи с президентом Венесуэлы Николасом Мадуро в Стамбуле. Сергей Гунеев/РИА Новости

Künftig ein Fall für Historiker: Uljukajew, Setschin, Putin (v.l.n.r.) / RIA Nowosti

In der Nacht auf den 15. November, um 2.33 Uhr, gab das Ermittlungskomitee Russlands auf seiner Internetseite eine Sensation bekannt: „Strafverfahren gegen Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erhoben.“ Schon wenige Minuten später überschlugen sich die russischen Medien mit Eilmeldungen. Ihre Korrespondenten und Fotografen mussten sich bis zum frühen Morgen am Gericht des Moskauer Bezirks Basmannyj einfinden, um  ja nicht die historische Szene zu verpassen: ein Minister von föderalem Rang in Polizeigewahrsam, womöglich sogar in Handschellen. So etwas hat es in Russland noch nicht gegeben, und auch in der Geschichte der Sowjetunion muss man für Vergleichbares weit zurückblicken, bis in die ganz dunklen Zeiten unter Stalin.

Das Harren vor dem Gebäude bei Minusgraden sollte sich nicht lohnen: Uljukajew wird in einem dunklen Kleintransporter bis an die Tür des Gerichts vorgefahren, in das ihn ein Mann in Sekundenschnelle führt. Nur sein Griff unter den Arm des Ministers deutet an, dass hier die Staatsgewalt zugeschlagen hat. Für die Journalisten sollte der Fall Uljukajew auch danach eine undankbare Angelegenheit bleiben. Bis auf die Mitteilungen des Ermittlungskomitees und ein kolportiertes Zitat des Beschuldigten, er sei nicht schuldig, gab es auch nach einer Woche so gut wie keine handfesten Informationen zu dem Fall. Im Gegenzug erblühte die Kunst der Kremldeutung, wie eh und je gestützt auf nicht namentlich genannte Quellen, mit denen die Machtzentren Russlands reich bevölkert zu sein scheinen. Doch Anlass für Spekulationen bot auch die offizielle Version der Ermittler.

Ihr gemäß soll Uljukajew in der Zentrale des staatlich kontrollierten Erdölgiganten Rosneft zwei Millionen US-Dollar Schmiergeld entgegengenommen haben. „Die Rede ist von Erpressung von Seiten Uljukajews“, heißt es in der ersten Mitteilung. Der inzwischen entlassene Wirtschaftsminister soll eine nachträgliche „Belohnung“ für seine Zustimmung zum Erwerb des Ölkonzerns Baschneft durch Rosneft verlangt haben. Rosneft habe dies den Behörden gemeldet, die dann eine fingierte Geldübergabe inszenierten. Der Fall sei ein weiterer Erfolg im „Kampf gegen die Korruption“, in dem man zuvor bereits einigen hohen Beamten des Sicherheitsapparats und Gouverneuren das Handwerk gelegt habe, so die offizielle Lesart in Politik und Fernsehen. Jetzt also sogar ein Minister. „Niemand steht über dem Gesetz“, wie Präsident Putin und Premier Medwedew in solchen Fällen immer betonen.

An dieser Version wird vor allem bezweifelt, dass es ein Minister wagen würde, Rosneft zu erpressen – dessen Chef Igor Setschin gilt als einer der drei mächtigsten Männer im Land. Alles an dieser Version sei seltsam, schreibt sogar die Staatszeitung „Rossijskaja gaseta“. Realistischer ist ein Bericht der Nachrichtenagentur Rosbalt, die sich dabei auf nicht benannte Quellen in den Sicherheitsorganen stützt: Uljukajew habe sich in der Tat bei Setschin darüber beschwert, dass er und seine Mitarbeiter keine Belohnung für die Abwicklung des Baschneft-Kaufs in Rekordzeit erhalten hätten. Künftig werde sein Ministerium daher nicht mehr so entgegenkommend sein. Eine Quelle bei Rosneft soll bestätigt haben, dass Uljukajew in der Folge Schritte unternommen habe, die man als Drohungen verstanden habe.

Derlei „Belohnungen“ seien gang und gäbe, meint etwa der als Kremldeuter besonders angesehene Walerij Solowjow, ein Professor der Diplomatenschmiede MGIMO. Politiker bekämen eine Art Prämie „na sladkoe“ („für Süßes“), wenn sie ein Projekt erfolgreich zu Ende bringen, so Solowjow im Radio „Echo Moskaus“. Diese Praxis werde in diesen Kreisen auch nicht als Korruption angesehen. Es  bleibt aber die Frage, wieso Uljukajew nicht mit einer Entlassung davonkam. Die oppositionelle Zeitung „Nowaja gaseta“, deren Investigativabteilung auch über Quellen im Staatsapparat zu verfügen scheint, sieht ihn als Opfer eines Machtkampfes zwischen Teilen des Ermittlungskomitees und des Inlandsgeheimdienstes FSB. Mit dem Fall Uljukajew habe sich der bei Putin in Ungnade gefallene Chef des ersteren, Alexander Bastrykin, in den Augen des Präsidenten rehabilitieren können, vermuten die Quellen der Zeitung.

Das Meisterstück an Kremldeutung lieferte der Journalist Konstantin Gaase: Wegen des Konflikts mit dem Westen habe der Kreml die Beschattung fast aller hohen Staatsdiener angeordnet. Alle Korruptionsprozesse der vergangenen Jahre gingen auf diese Operation zurück. Jetzt habe man die Kontrolle über die so angesammelten Informationen verloren: Einer der beteiligten Geheimdienstler wechselte vor kurzem zu Rosneft, wo er seinem neuen Chef Igor Setschin dabei half, sich eines Widersachers zu entledigen. Ob diese Gerüchte zutreffen, werden jedoch erst künftige Historiker erfahren, so Gaase.

Bojan Krstulovic

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