MDZ-Umfrage vor der Präsidentschaftswahl: Wie geht es dir, Russland?

2012 trat Wladimir Putin seine dritte Amtszeit als Präsident an. Seitdem hat sich viel ereignet: Olympia in Sotschi, Krim-Anschluss, Sanktionen, Syrien. Russland ist in der Weltpolitik wieder wer, aber zu welchem Preis? Vor der Präsidentschaftswahl am 18. März haben sich die MDZ-Redakteure in ihrem russischen Bekanntenkreis umgehört, wie sich das Leben der Menschen in diesen sechs Jahren entwickelt hat. Volkes Stimme zum Stand der Dinge.

Landpartie: Dieses Guckloch im Kirchturm gibt den Blick frei auf eine Siedlung in der Stadt Wytschuga, Region Iwanowo. © Tino Künzel

Andrej Gubenkow
Ingenieur im Energiewesen, 42 Jahre
Wolgoretschensk (Region Kostroma)

Bei uns lebt man wie im Dschungel. Jeder ist auf sich allein gestellt und muss sehen, wo er bleibt. Du kannst dir nur selber helfen und dich auch nur auf deine Angehörigen zu hundert Prozent verlassen. Dabei knüpft und pflegt man jedoch alle möglichen Beziehungen, denn wer nicht jemanden kennt, der jemanden kennt, sei es nun in der Poliklinik, in der Schule, bei der Polizei, praktisch überall, der ist ohnehin aufgeschmissen.

Ich will gar nicht groß jammern: Mir und meiner Familie geht es ja eigentlich gut, zumindest im Vergleich zu vielen anderen. Aber dafür mussten meine Frau und ich unsere Arbeitsplätze in Wolgoretschensk, unserer Heimatstadt, aufgeben. Jetzt sehen wir uns kaum noch.

Ich war früher Leiter der Reparaturabteilung im Wolgoretschensker Wärmekraftwerk und wäre liebend gern dort geblieben, aber die Perspektiven waren so, dass man ständig damit rechnen musste, dass der Lohn oder das Personal gekürzt wird. Um nicht zu warten, bis man eines Tages auf der Straße landet, habe ich sozusagen präventive Schritte eingeleitet und – erneut über Beziehungen – eine neuen Job in Moskau gefunden, übrigens bei einem deutschen Energieunternehmen namens Uniper, das in Russland Unipro heißt. Beruflich und finanziell war das ein Schritt nach vorn, trotzdem hätte ich ihn mir gern erspart. Ich wohne jetzt die Woche über in Chimki bei Moskau, getrennt von meiner Familie. Auch meine Eltern sind in einem Alter, dass ich gern in ihrer Nähe wäre. Ganz zu schweigen davon, dass ich meinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis zurücklassen musste.

Aber da kann man nichts machen. In unserer Stadt arbeitet mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung auswärts, und zwar größtenteils nicht nur wie ich in Moskau, sondern im Norden, in Sibirien, auf großen Baustellen wie beispielsweise der Krim-Brücke. Die Männer sind wochenlang nicht zu Hause. Auch wir mussten uns etwas einfallen lassen, um unseren Lebensstandard zu halten oder sogar zu verbessern. Früher wären wir gar nicht auf solche Gedanken gekommen, aber dann sind die Reallöhne immer weiter gesunken. Ich würde sagen, dass das schon seit zehn Jahren so geht. Manche finden sich damit ab. Wir legen die Hände nicht in den Schoß, sondern halten die Augen und Ohren offen und schauen, was auf dem Arbeitsmarkt passiert: Heute hast du Arbeit, aber morgen bist du vielleicht gezwungen, dir eine neue zu suchen, weil die Firma pleitegeht oder das Gehalt hinten und vorne nicht reicht. Deshalb wollen wir Varian­ten für den Fall der Fälle in der Hinterhand haben.

Selfie mit den Söhnen: Andrej Gubenkow letzten Herbst beim Eishockey in Jaroslawl. © Privat

Meine Frau, die von Beruf Philologin ist, aber auch eine technische Ausbildung hat und lange Übersetzerin für Englisch und Französisch war, arbeitet jetzt für einen italienischen Hersteller für Kühltechnik in Kostroma, eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt von Wolgoretschensk. Sie verlässt morgens um sieben das Haus und ist abends um sieben wieder daheim. Tagsüber sind unsere beiden Söhne – 13 und 10 Jahre alt – mehr oder weniger sich selbst überlassen. Schön, dass wenigstens die Großeltern noch nach dem Rechten schauen können. Ihr jetziges Gehalt versetzt meine Frau in die Lage, den Familienunterhalt allein zu bestreiten. Mit meinem Gehalt bezahle ich den Kredit für eine Zwei-Raum-Wohnung ab, die wir in Chimki gekauft haben. In den Kauf habe ich gewisse Ersparnisse gesteckt, mir Geld von Verwandten geliehen und bis auf unsere Vier-Raum-Wohnung in Wolgoretschensk und unsere beiden Autos verkauft, was nur ging. Deshalb mussten wir am Ende auch nur einen kleinen Kredit aufnehmen, der binnen eines halben Jahres abbezahlt ist. Jetzt richte ich die Wohnung noch her und dann wird im Sommer die Familie nachgeholt. Es wird Zeit, dass wir wieder alle zusammen sind und die Kinder ihre Eltern wiederhaben, die sich um sie kümmern.

Generell gefällt mir vieles an der Entwicklung nicht. Die Leute wandern aus den kleinen Städten in die großen ab, denn nur dort gibt es vernünftig bezahlte Arbeit, nur dort wird auch gebaut: Häuser, Fabriken, Einkaufszentren. Unsere Schulbildung ist schlechter geworden, um das Krankenhaus in unserer Stadt kann man nur einen großen Bogen machen und zusehen, möglichst nicht krank zu werden. Die Mitarbeiter dort sind so „qualifiziert“, dass sie selbst zur fehlerfreien Ausstellung eines Totenscheins mitunter mehrere Anläufe benötigen. Aber  welcher fähige Arzt arbeitet auch für das Geld, das man dort zahlt?

Man hat den Eindruck, dass unsere Politiker in einer Parallelwelt leben, die mit unserer nichts zu tun hat. Noch nicht mal die Interessen scheinen sich zu decken. Die negativen Momente überwiegen die positiven. Aber früher waren es noch mehr als heute. Immerhin gibt es inzwischen Chancen, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Wir versuchen, sie zu nutzen.  

 

Michail Klimenko
Projektmanager, 27 Jahre
Moskau

Ein Jahr nach Putins Wahl 2012 habe ich die Universität für Verkehrswesen in Moskau abgeschlossen. Ein potenzieller Arbeitgeber war die Russische Bahn. Doch leider durchkreuzte der Militärdienst meine Pläne. Geld, um mich freizukaufen, hatte ich nicht. Und drei Jahre zu promovieren, um die Wehrpflicht zu umgehen, kam für mich auch nicht in Frage. Also ging ich zur Armee, wo katastrophale Verhältnisse herrschten. Nur ein Bespiel: Im Winter hatten wir die Wahl zwischen gewöhnlichen Lederstiefeln und gebrauchten Filzstiefeln – und das im 21. Jahrhundert. Das sagt viel über den damaligen Zustand des Militärs aus. 2012 wurde der Verteidigungsminister Serdjukow durch Schojgu ersetzt. Inzwischen höre ich von Kameraden, dass sich die Lage der Soldaten gravierend verbessert hat. Der Jahrgang nach mir bekam bereits gefütterte Lederstiefel.

Mein Dienstort war ein Mikro­rajon von Schtschjolkowo bei Moskau. Einer Stadt, die immer mehr schrumpft, weil es dort kaum Arbeit gibt. Die Bevölkerung besteht aus Militärangehörigen, Rentnern und Alkoholikern. So stelle ich mir eine provinzielle russische Kleinstadt vor. Hier hat sich in den sechs Jahren nichts zum Positiven bewegt. Zum Glück lebe ich in Moskau.

Nach meinem Wehrdienst war überall „Krise“. Aber ich habe Anfang 2015 in einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet und weder in meiner Firma noch außerhalb davon besonders viel gespürt. Ich würde sogar sagen, dass die Sanktionen bei den Unternehmen ein Umdenken bewirkt haben und man heute mehr auf die Finanzen achtet. Bei meinem aktuellen Arbeitgeber herrscht in dieser Hinsicht mehr Ordnung als in den sogenannten Boom-Jahren vor 2014.

Ich blicke optimistisch in die Zukunft. Natürlich gibt es Fehler in der Innen- und Außenpolitik, aber ich spüre Stabilität. Ich habe keine Angst, dass eine nächste Krise mir den Boden unter den Füßen entziehen könnte.

 

Xenia Prokopjewa
Architektin, 26 Jahre
St. Petersburg

2012 habe ich im dritten Semester studiert und endgültig verstanden, dass es nicht besonders klug wäre, sich allein auf das veraltete russische Bildungssystem zu verlassen. Ich habe mich um Praktika in modernen Unternehmen bemüht, Vorlesungen und Festivals besucht, die von führenden Experten der Architekturbranche organisiert wurden, und mich selbstständig durch  Computerprogramme weitergebildet. Nach dem Studium stellte sich heraus, dass meine Träume von Großprojekten Träume bleiben werden. Das war die Zeit der Wirtschaftskrise und eine gute Arbeit zu finden, erwies sich als schwierig. Ich absolvierte ein Praktikum in einem Architekturbüro, das mich danach übernahm. Aber wir haben keine Häuser gebaut, die Auftraggeber mussten selbst den Gürtel enger schnallen und so war Inneneinrichtung der Großteil unserer Arbeit: Wir dachten uns Wandfarben aus und Muster für die Fußbodenfliesen. Dafür hatte ich nun sechs Jahre studiert! Das größte Problem in unserer Branche ist heute, dass die Architekten ihre Energie und ihren Ehrgeiz verlieren und nur die vom Auftraggeber ausgewählten ausländischen Konzeptionen für hiesige Verhältnisse adaptieren. An dieser Situation werden Wahlen wohl kaum etwas ändern.

 

Ein paar Rubel extra verdient sich dieser Rentner in der Provinzhauptstadt Tambow mit Akkordeonspielen in einer Fußgängerunterführung. © Tino Künzel

Jewgenija Morgunowa
Krankenschwester, 28 Jahre
Moskau

2012 begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Nach dem Ende des Medizinstudiums habe ich angefangen, in einem Rettungswagen zu arbeiten. Die romantische Aura der Sanitäterin, die Menschenleben rettet, ist schnell verflogen – bei einem Gehalt von 17.000 Rubel bei schwerer Arbeit und langen Schichten. Ich kenne die Zustände in der Medizin nicht nur vom Hörensagen. In den letzten sechs Jahren wurden viele medizinische Einrichtungen geschlossen und Menschen entlassen. Dass die Verbliebenen anständige Gehälter bekommen hätten, ist eine Mär. Mitarbeiter im Gesundheitswesen müssen immer noch anderthalb bis zwei Schichten am Stück arbeiten, um irgendwie über die Runden zu kommen. Meiner Meinung nach wurde die Medizin in den letzten sechs Jahren zu Grunde gerichtet.

Was uns als junge Familie betrifft, mussten wir für unsere Wohnung eine Hypothek mit 11,5 Prozent Zinsen aufnehmen. Dabei arbeitet momentan nur mein Mann, weil ich mit unserem Kind zu Hause sitze. Wir leben also von den 60.000 Rubel, die mein Mann verdient. Davon gehen 32.000 Rubel für die Hypothek ab.

Ich habe keine Ahnung, womit sich die Regierung beschäftigt und was für eine Sozialpolitik sie betreibt. Außen- und Verteidigungspolitik, das ist alles. Um das Leben ihrer Bürger schert sie sich nicht.

 

Galina Tarassowa
Rentnerin, von Beruf Lektorin, 60 Jahre
Moskau

„Gehst du wählen?“ Gerade heute hat mich das wieder jemand gefragt. Aber ob ich wähle oder nicht, macht keinen Unterschied, denn wie die Wahl ausgeht, ist wie in früheren Jahren ohnehin vorgezeichnet. Viel wichtiger finde ich die Frage, wie sich mein Leben in der jüngsten Amtsperiode des Präsidenten verändert hat. Vor fünf Jahren habe ich das Rentenalter erreicht und eine Rente zugewiesen bekommen: 5400 Rubel (damals umgerechnet rund 130 Euro) – und das für 30 Jahre Berufsleben und den Titel „Veteran der Arbeit“. Wenn man als Moskauer Rentner nicht arbeitet, hat man Anspruch auf einen Zuschuss zur staatlichen Rente seitens der Stadt Moskau. Damit wäre ich auf 11.000 Rubel gekommen. Kann man davon in Moskau leben? Natürlich nicht! Also arbeite ich weiter, als Lektorin, die ich von Beruf bin, ist das ja ohne weiteres möglich.

Aber trotz des stabilen Einkommens, das ich damit habe, spüre ich den sinkenden Lebensstandard am eigenen Leib. Die Wohnungskosten haben sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt, die Nahrungsmittel sind heute von minderer Qualität als zuvor, dafür aber praktisch 100 Prozent teurer geworden. Käse für 320 Rubel kostet heute 600 Rubel. Die Preise für Milch und Eier sind gestiegen. Die Zahl der Krankenhäuser hat sich halbiert, und der Arzt in der städtischen Poliklinik hat für jeden Patien­ten jetzt nur noch zwölf Minuten Zeit.

Meine Rente beträgt heute 8543,01 Rubel (122 Euro). Als „Veteran der Arbeit“ erhalte ich im Monat 1250 Rubel zusätzlich, außerdem werden mir 50 Prozent der Nebenkosten erlassen. Würde ich nicht arbeiten, läge die Rente bei 17.500 Rubel (250 Euro).

 

Olga Trufanowa
Studentin, 23 Jahre
St. Petersburg

Die letzten sechs Jahre waren für mich schon deshalb schön und ein Schritt nach vorne, weil ich 2012 die Schule beendet und mich an der Universität eingeschrieben habe. Ich kann mich an die inneren Veränderungen erinnern, an den Umzug in eine andere Stadt und ein neues soziales Umfeld. Als 2014 die Krise begann, war ich gerade im Auslandssemester in den USA. Zum Glück haben wir noch im Sommer Rubel gegen Euro für den alten Kurs getauscht. Als ich im Dezember wieder zu Hause war und auf den Markt ging, traute ich meinen Augen nicht: Die Preise hatten sich verdoppelt, mein Stipendium war aber immer noch dasselbe. Das war in St. Petersburg, aber meine Familie in Sibirien hat mir Ähnliches berichtet.

Im Gedächtnis geblieben ist mir auch die Entlassung der Dozenten des Studiengangs Politikwissenschaft und Menschenrechte an meiner Universität. Und der Abriss der Buden auf dem Sennaja-Platz. Ich habe es leider nicht mehr geschafft, die veganen Köstlichkeiten in einer dieser Buden zu probieren. Als vor einem Jahr der Terroranschlag in der St. Petersburger Metro verübt wurde, bin ich im Moment der Explosion auf einer anderen Linie an der Station vorbeigefahren und habe einfach riesiges Glück gehabt.

Was gab es noch an Schönem? An den Bushaltestellen wurden Solarmodule angebracht, die die Anzeigen mit Energie versorgen sollten. Na gut, jetzt zeigen sie das Wetter an.

 

Wassilij Kruglow
Chefredakteur des Telegram-Kanals Alt.Media, 23 Jahre
Moskau

Geld: Wenn ich die vergangenen sechs Jahre analysieren soll, zähle ich zunächst mal das Geld. Bei jedem Einkauf staune ich, wie viel davon selbst für wenige Lebensmittel fällig wird. Und nicht nur dafür: Für alles muss man heute mehr zahlen als 2012 und bekommt dafür weniger Ware oder Leistungen. Ein Beispiel aus dem Alltag: Damals konnte ich mein Auto für 2500 Rubel auftanken, heute wären es 3500 Rubel.

Essen: Die Selbstgeißelung namens „Gegensanktionen“ hat mich hart getroffen. Ich bin ein Feinschmecker und kann mich für Qualitätskäse, Prosciutto  und Würstchen begeistern. Heute ist das alles entweder nur noch über Schleichwege zu haben oder man muss es sich aus dem Ausland mitbringen beziehungsweise mitbringen lassen. Was im Käseregal liegt, ist ein widerliches Surrogat. Generell hat die Qualität von Nahrungsmitteln schlimm nachgelassen, was dazu führt, dass man entweder die Finger davon lässt oder auf teurere Erzeugnisse umsteigt. Ich bin ein Fan von Schokolade und Schokodesserts, aber wenn es sich um ein russisches Produkt handelt, dann nehme ich es nicht, weil es „Kakaobutter-Ersatz“ und „Milchfett-Ersatz“ enthält. Unsere gesamte Nahrung ist ein einziger „Nahrungs-Ersatz“ geworden.

Meinungsfreiheit: Ich bin ein Dauernutzer von VPN, um Blockierungen zu umgehen und meine Privatsphäre zu schützen. Im Sozialnetzwerk VKontakte veröffentliche ich überhaupt nichts mehr, seit man Durow (den Unternehmensgründer) aus dem Unternehmen und außer Landes gedrängt hat. Die meisten Strafverfahren wegen Reposts und Likes haben mit VKontakte zu tun, dessen Verbindungen zum Staat für mich außer Frage stehen.

Zusammengestellt von Tino Künzel, Katharina Lindt, Daniel Säwert, Olga Silantjewa und Ljubawa Winokurowa.


P.S.: Die renommierte Tageszeitung „Kommersant“ hat ihre Leser seit Anfang März bei Online-Umfragen zweimal zum Thema Wahlen abstimmen lassen. Die erste Frage lautete: Welchen Weg geht Russland? Von drei vorgegebenen Antwort die mit Abstand populärste (61%): „Keinen. Bei uns ist viel los, aber nichts ändert sich.“ Bei der zweite Frage sollten die Leser beantworten, was der Wahltag am 18. März für sie ist. 36 Prozent meinten: eine Möglichkeit, ihre staatsbürgerliche Haltung zu bekunden. 58 Prozent entschieden sich für die Antwortvariante: „ein Film, den alle schon gesehen haben“.

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