Nicht eine Identität, sondern viele

Russlanddeutsche Lebensläufe sind oft verschlungen. Natalie Pawlik (29) kennt das von ihrer eigenen Familie. Die SPD-Politikerin, seit April neue Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, wurde in Sibirien geboren. Mit der MDZ hat sie über ihre Erfahrungen bei der Integration in Deutschland, über Identität und ungleiche Chancen gesprochen.

Als Spätaussiedlerin kümmert sich Natalie Pawlik um die Belange der Spätaussiedler. (Foto: Maximilian König)

Frau Pawlik, Sie sind mit Ihrer Familie 1999 nach Deutschland gekommen, als Sie sechs Jahre alt waren. An welche ersten Ein­drücke erinnern Sie sich noch?

Das Ankommen am Flughafen Hannover, die Erstaufnahme in Friedland und das Leben im Aussiedlerwohnheim haben sich mir besonders eingeprägt. Aber die erste Zeit in Deutschland war überhaupt sehr aufregend für mich als Kind: eine neue Umgebung mit neuen Regeln, eine neue Sprache und neue Menschen um mich herum.

Eine ganz andere Welt?

Wir mussten als Familie sehr vielen Herausforderungen begegnen. Das war nicht einfach. Gleichzeitig haben wir jedoch auch große Unterstützung durch das deutsche System, durch karitative und soziale Einrichtungen, durch Ehrenamtliche und durch unsere Verwandten, die bereits in Deutschland waren, erhalten. Dafür bin ich sehr dankbar und das hat uns den Einstieg natürlich erleichtert.

In Russland waren Sie trotz Ihrer russlanddeutschen Herkunft vor allem von russischer Sprache umgeben, in Deutschland nun von deutscher. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Schon in der Grundschule hatte ich viele deutsche, polnische, türkische und jugoslawische Freundinnen und Freunde, mit denen ich in der deutschen Sprache kommunizieren musste. Meine Eltern haben außerdem Wert darauf gelegt, dass wir deutsche Bücher lesen und deutsches Fernsehen schauen, wenn wir überhaupt Fernsehen geschaut haben. Wichtig ist, dass wir Menschen auch mal aus der Komfortzone heraustreten und selbst aktiv werden.

Wie steht es um Ihr Russisch?

Ich kann mich gut verständigen. Aber ich spreche und schreibe viel besser auf Deutsch als auf Russisch. Dadurch, dass ich in Russland nie einen Kindergarten oder eine Schule besucht habe, fehlen mir viele Grundlagen. Ich habe mir selbstständig, mit Hilfe meiner Mutter und meiner Schwester, Lesen und Schreiben auf Russisch beigebracht. Diese Kenntnisse möchte ich auch in Zukunft weiter ausbauen.

Wie leicht oder schwer ist der Neuanfang in Deutschland Ihnen und Ihrer Familie gefallen?

Wir wohnten die ersten Jahre zu viert in einem Zimmer im Aussiedlerwohnheim, auf engstem Raum mit anderen Aussiedlerfamilien. Allein das vermittelte mir als Kind ein Gefühl vom Anderssein.

Meine Schwester und ich haben die unterschiedlichsten Hürden des deutschen Schulsystems erlebt. Meine Eltern hatten Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Abschlüssen und mussten dadurch auch in schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Generell ging das Leben als Spätaussiedler auch mit Armut einher und somit auch mit den dazugehörigen Ausgrenzungserfahrungen.

Mir persönlich hat es geholfen, mich nicht von den Schwierigkeiten des Lebens unterkriegen zu lassen oder gar aufzugeben. Irgendwann habe ich angefangen, mich zu engagieren und mich am sozialen Leben in Vereinen, Organisationen und bei bestehenden Angeboten zu beteiligen. Das hat meinen Inte­grationsprozess natürlich befördert und mein soziales Umfeld durchmischt.

Würden Sie sich selbst als Beispiel dafür bezeichnen, dass Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland alle Türen offenstehen?

Leider haben in meiner Genera­tion viele Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler zahlreiche Schwierigkeiten und Diskriminierungen erlebt. Die meisten von uns sind ohne viel Geld oder Besitz nach Deutschland gekommen und haben in Armut leben müssen. Das bedeutet per se schon einen ungleichen Zugang zu Chancen und Teilhabe an der Gesellschaft.

Darüber hinaus spielt im deutschen Bildungssystem die soziale Herkunft leider immer noch eine entscheidende Rolle beim Bildungserfolg. Kinder, deren Eltern über das Wissen der Funktionsweise einer Gesellschaft verfügen, die Sprache beherrschen oder über einen akademischen Abschluss verfügen, erhalten von Haus aus bessere Chancen als Kinder, die all das nicht haben. Viele meiner Bekannten wurden in der Schule rückversetzt, nur weil sie die Sprache nicht konnten. So etwas demotiviert Menschen und vor allem Kinder, sodass es für sie schwer war, diese Rückschritte nachzuholen, was wiederum zu enormen Schwierigkeiten beim schulischen Erfolg führte. Das hatte dementsprechend auch Auswirkungen auf das Berufsleben. Viele meiner Bekannten arbeiten in Jobs, die leider viel zu gering bezahlt werden. Das führt zu großen Unsicherheiten und Ängsten.

Gleichzeitig erlebe ich aber auch, dass viele Russlanddeutsche in meiner Generation enorm viel erreicht haben. Ich würde sogar sagen, dass die meisten von ihnen in der deutschen Gesellschaft gut angekommen sind. Die Probleme sind überwiegend nicht spezifisch für Russlanddeutsche. Sie sind vielmehr von sozialer und ökonomischer Natur und betreffen die Einheimischen genauso wie auch Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund.

Die heute in Deutschland lebenden Russlanddeutschen stammen ursprünglich aus weit entfernten Gegenden, so wie Sie, und aus ganz anderen Verhältnissen. Was für eine Identität bringen sie mit?

Aus meiner Sicht gibt es nicht die einzig wahre „russlanddeutsche Identität“. Es handelt sich vielmehr um eine sehr heterogene Personengruppe mit unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Träumen. Was viele Russlanddeutsche jedoch eint, ist zum einen das besondere Kriegsfolgenschicksal, das viele Familien bis heute prägt, und zum anderen das Leben in einem Land, in das sie ausgewandert sind. Russlanddeutsche sind dadurch mit vielen interkulturellen Kompetenzen ausgestattet und ideale Botschafter für ein friedliches Miteinander.

Was an Ihnen selbst ist, wenn man so will, russlanddeutsch?

Diese Frage zu beantworten ist nicht einfach, da ich nicht in die Verallgemeinerungen und Vorurteile einsteigen möchte, die ich eben noch verurteilt habe. Eine sehr wertvolle Erfahrung für mich ist das Leben und Aufwachsen in zwei Kulturkreisen, in unterschiedlichen Gesellschaften und mit der Geschichte der Russlanddeutschen. Das hat bei mir unter anderem zu einer Vorliebe für russische Popmusik und einem Faible für die russische Küche geführt. Ich würde behaupten, dass davon auch mein Umfeld stark profitiert. Diese Erfahrung ist allerdings keine speziell russlanddeutsche, sondern betrifft viele Menschen mit Migrationshintergrund.

In der öffentlichen Wahrnehmung tauchen Russlanddeutsche oft dann auf, wenn sie sich so artikulieren, dass ihre Hauptinforma­tionsquelle das russische Fernsehen zu sein scheint. Ist das ein zutreffendes oder verzerrtes Bild?

Ich persönlich finde es schade, wenn Russlanddeutsche immer dann in der medialen Öffentlichkeit stehen, wenn es negative Berichterstattungen sind oder über Problemfälle berichtet wird. Klischees und Vorurteile helfen nicht weiter. Sie schüren Ängste, Ressentiments und Ausgrenzung und spalten unsere Gesellschaft.

Russlanddeutsche sind eine heterogene und vielfältige Bevölkerungsgruppe, sodass jede Art von Pauschalisierungen – sowohl positive als auch negative – für verzerrte Bilder sorgen. In der russlanddeutschen Community ist es ähnlich wie in der Gesamtgesellschaft. Es gibt Menschen, die sich in Filterblasen bewegen und Informationen nur danach bewerten, von wem sie kommen und ob sie ihre Haltung bestätigen. Viele wissen nicht, wie sie mit unterschiedlichen Quellen und Materialien richtig umgehen sollen und woran man Falsch­informationen erkennt.

Ich möchte Menschen darin unterstützen, mit schwierigen Diskussionen umgehen und gegen Fake News standhalten zu können. Der Bund fördert diesbezüglich auch Projekte wie zum Beispiel Ostklick. Auch die Podcasts „Steppenkinder“ oder „x3“ sind wichtig, denn sie klären über die Geschichte und das postsowjetische Leben in Deutschland auf. Mir ist es wichtig, dass Fakten im Fokus stehen und wir als Gesellschaft mehr mit den Menschen sprechen statt über sie.

Was sollen Ihre Kernthemen als Aussiedlerbeauftragte werden?

Die deutsche Gesellschaft bietet viele Chancen, die jedoch ziemlich ungleich verteilt sind und oft auch von Zufällen abhängen. Mir ist es wichtig, daran zu arbeiten, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft Chancen und Teilhabe erfahren, egal wo sie herkommen. Und ich will, dass Chancen nicht von Zufällen abhängen. Auch deshalb bin ich in die Politik gegangen.

Außerdem will ich die Perspektiven der jungen Generation in den Blick nehmen und sie stärken. Viele, die sich mit dem Thema Vertreibung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit oder dem Aussiedlersein beschäftigen, sind schon älter. Aber wie geht es den jungen Menschen in den Nachfolgegenerationen? Ich will den Dialog suchen und ihre Anliegen in die Politik tragen.

Die Fragen stellte Tino Künzel.

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