
Das Erste, was auffällt: Die Russen sind absolut nicht bereit, an die Möglichkeit eines Krieges zu glauben, selbst wenn buchstäblich alles auf eine solche Möglichkeit hinweist. Beispiele für eine solche Überzeugung von einem friedlichen Ergebnis – man kann es auch als Naivität bezeichnen – sind in der Geschichte Russlands zahlreich.
Das war bei Israels Angriff auf den Iran der Fall. Es gab unmissverständliche Erklärungen und Warnungen. Es gab bereits einen Präzedenzfall für die Ausübung von Gewalt auf iranischem Gebiet: die Liquidierung von Ismail Haniyeh, einem der Führer der palästinensischen islamistischen Organisation Hamas (die in Russland nicht als terroristisch gilt), in Teheran.
Überraschung für die Russen
Doch trotz aller Signale kam der Beginn aktiver Militäraktionen – Bomben- und Raketenangriffe – für viele Russen überraschend. Eine der elegantesten Erklärungen, warum dies nicht geschehen konnte, lautet: Ohne Amerika kann Israel nichts unternehmen, die USA werden es derzeit nicht zulassen, von der Drohung zur Tat überzugehen.
An dieser Version gibt es ein paar interessante Punkte. Zum Beispiel die Tatsache, dass viele Russen glauben, dass alles, was in der Welt geschieht, einzig und allein das Ergebnis des Willens der Mächtigen, ihrer Absprachen und Vereinbarungen hinter den Kulissen ist. Natürlich sollte dieser Faktor nicht unterschätzt werden, aber Menschen, die so reden, sprechen kleineren Ländern oft das Recht und die Möglichkeit ab, das Geschehen unabhängig zu beeinflussen. Die Macht sicher entscheidet, aber diese Sichtweise ist weitgehend imperial und verleugnet oft die Realität, was gefährlich ist.
Ein weiterer Aspekt der Version über die allmächtigen USA, die ihre Verbündeten an der kurzen Leine halten, ist eine Vorstellung, dass alles schon beschlossen ist. Aber glaubt noch irgendjemand, dass das, was Präsident Trump heute Vormittag gesagt hat, morgen oder sogar heute Abend relevant sein wird? In diesem Punkt unterscheidet sich der US-amerikanische Staatschef von manchen seiner Amtskollegen nicht.
Die bittere Realität
Doch dann geschah etwas, das viele Russen nicht glauben konnten. Israel führte schwere Angriffe auf nukleare und militärische Einrichtungen im Iran durch und eliminierte eine Reihe von Physikern, die am iranischen Atomprogramm beteiligt waren, sowie hochrangige iranische Militärs. Nachdem der iranische Generalstabschef ausgeschaltet worden war, behielt sein Nachfolger nur vier Tage lang sein Amt. Er wurde durch einen Angriff der israelischen Luftwaffe auf das Hauptquartier der iranischen Streitkräfte im Zentrum von Teheran beseitigt. Iran antwortet: So meldete das Militär der Islamischen Republik einen Raketenangriff auf das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad in der Nähe von Tel Aviv sowie auf das Logistikzentrum des israelischen Militärgeheimdienstes Aman. Es versteht sich von selbst, dass bei diesem Schlagabtausch Menschen, die nichts mit dem Atomprogramm, dem Geheimdienst oder der Armee zu tun haben, zu Schaden kommen und sterben.
Die Russen beobachten dies genau und reagieren darauf in den sozialen Medien, in TV-Talkshows und natürlich in offiziellen Interviews. Bei all diesen Reaktionen gibt es zwei Punkte: auf wessen Seite sich eine bestimmte Gruppe oder Einzelperson stellt und ob der Kommentator die Ereignisse im Nahen Osten mit den Geschehnissen in Osteuropa irgendwie vergleicht.
K(ein) idealer Vermittler
Der offizielle Standpunkt wurde vom russischen Präsidenten Wladimir Putin dargelegt. Er sagte, dass eine Lösung des Konflikts „sowohl die Interessen des Irans in Bezug auf eine friedliche Nukleartätigkeit als auch die Interessen Israels in Bezug auf die bedingungslose Sicherheit des jüdischen Staates sichern sollte“. Es sei richtig, einen Weg zu finden, die Feindseligkeiten zu beenden und eine Einigung zwischen allen Beteiligten zu erzielen. Das heißt, man sollte das erreichen, was in Bezug auf Russland und die Ukraine noch nicht gelungen ist. Wladimir Putin könne als Vermittler den Iran und Israel zum Frieden bringen, der russische Präsident habe sich für diese Rolle angeboten, so sein amerikanischer Amtskollege. Donald Trump hat diese Initiative jedoch nicht zu schätzen gewusst.
Idealerweise sollte ein Vermittler in Verhandlungen eine Position einnehmen, die beiden Seiten gegenüber gleich weit entfernt ist. Es liegt auf der Hand, dass Russland dem Iran zugeneigt ist, obwohl die Medien daran erinnern, dass Wladimir Putin gute Beziehungen zum israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu unterhält. Außerdem kann Israel keineswegs als wichtigster Helfer der Ukraine bezeichnet werden. Mehr noch, dieses Land steht nicht auf Russlands Liste der unfreundlichen Staaten. Zudem hat Israel die Flugverbindungen mit Russland nicht eingestellt. Schließlich sind die Länder auch durch die Menschen miteinander verbunden: Russische (ehemalige) Staatsangehörige sind in Israel sichtbar.
Allerdings hat Russland auch viele gemeinsame Interessen mit dem Iran. Teheran belieferte Moskau mit Kamikaze-Drohnen, die an der Front Mangelware waren, und jetzt wird die iranische Drohne Shahed 136 in Russland unter dem Namen Geran-2 zusammengebaut. Russland ist an wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran interessiert (beide Länder führen die Liste der am stärksten sanktionierten Staaten an). Der russische Präsident erinnerte auf der Pressekonferenz daran, dass Spezialisten aus Russland noch immer im Atomkraftwerk Bushehr arbeiten, „und wir werden nicht abziehen“. Darüber hinaus wird die Position Moskaus durch die Idee beeinflusst, dass Länder des sogenannten globalen Südens auf der politischen Bühne mehr Präsenz zeigen sollen. Russland und der Iran gehören zu diesem geopolitischen Süden, während Israel trotz seiner geografischen Lage nicht dazugehört.
Sternstunde der Militärexperten
Diese Position wird über alle Kanäle verbreitet. Israel habe eine Aggression gegen einen souveränen Staat gestartet, und der Iran nutze die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um darauf zu reagieren. Etwas unerwartet war der Appell buchstäblich aller Fernsehkommentatoren an die Normen des Völkerrechts. Es scheint noch nicht lange her zu sein, dass dieselben Leute applaudierten, als Russland sich aus internationalen Konventionen und Organisationen zurückzog. In letzter Zeit haben sich vorwiegend Kritiker des politischen Kurses des Kreml auf das Völkerrecht berufen.
Die Berichterstattung über das Geschehen im Nahen Osten kommt nicht ohne einen Vergleich des Potenzials der Kriegsparteien aus. Dies ist fast zu einem obligatorischen Teil jeder analytischen Sendung geworden: wie viele und welche Art von Raketen die Iraner und Israelis haben, wie treffsicher sie sind und welche Art von Zerstörung sie mit sich bringen können. Einige Militärexperten, die in Fernsehsendungen auftreten, weisen darauf hin, dass auch russische Waffen zur Abwehr israelischer Luftangriffe eingesetzt werden. Jewgeni Michailow, Militärexperte von Kanal 360, verwies beispielsweise auf den Einsatz des Boden-Luft-Lenkwaffensystems 9K37 Buk. All dies wird sehr ausführlich und mit allen Details besprochen.
Es ist diese große Aufmerksamkeit für die militärische Komponente der iranisch-israelischen Konfrontation, die einige russische Frontberichterstatter im Kampfgebiet in der Ukraine verärgert. In Telegram beschweren sie sich darüber, dass sie keine so detaillierte Analyse der Ausrüstungssituation in den russischen Militäreinheiten sehen und dass die bestehenden Probleme totgeschwiegen werden.
Die Wurzel des Problems
Im Allgemeinen drückt sich diese Gruppe derjenigen, die sich zur Situation äußern, oft in den politisch unkorrektesten Begriffen aus. Anastassija Kaschewarowa ist nur ein Beispiel dafür. Sie schrieb das Folgende: „Einst sahen die USA zu, wie die Nazis die Juden ausrotteten, indem sie sich weigerten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, […] jetzt tun die Juden heimtückisch den Willen der USA: Sie haben einen Krieg mit dem Iran begonnen.“ Kaschewarowa sieht die Wurzel des Problems. Sie ist der Meinung, dass „das heutige Israel auf Hass aufgebaut ist und jeder Jude, der über Diplomatie spricht, zu einem Paria wird. […] All dieser Hass des kleinen Wüstenstaates Israel wurde von den USA unterstützt. Sie brauchen ihn, um die muslimische Welt zu bekämpfen und die Ölfelder zu erobern. Und jetzt schreit Trump, wie er die Welt in Ordnung bringen wird. Ja, er wird sie in Ordnung bringen, so wie der Westen sie seit Hunderten von Jahren in Ordnung gebracht hat – indem er sie mit Blut übergossen hat.“ Gerade erst haben die USA in der Rangliste der russlandfeindlichsten Staaten den ersten Platz an Deutschland verloren, und jetzt ist Trump wieder in Ungnade gefallen. Was wird geschehen, wenn er beschließt, sich an der Bombardierung der Atomobjekte im Iran zu beteiligen? Aber es ist unwahrscheinlich. Russen glauben kaum an eine solche Möglichkeit.
Igor Beresin