Mit der Hoffnung auf Wandel

Zwei Wahlgänge, ein Rededuell in einem Fußballstadion und öffentliche Drogentests: Die Ukraine hat einen äußerst turbulenten Wahlkampf hinter sich. Doch wie bewerten die einfachen Bürger die Schlacht um die Präsidentschaft - und welche Hoffnungen setzen sie in die neue Führung? Drei Ukrainer erzählen.

Der Sieger des turbulenten Wahlkampfes. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenkij. / Foto: brestcity.com

Walentina, Rentnerin aus Odessa

Ich habe alle mit der Wahl verbundenen Ereignisse verfolgt. Die Frage, wer neuer Präsident wird, war für mich sehr wichtig. Denn mir ist nicht gleichgültig, was in unserem Land passiert. Und es freut mich, dass Poroschenko die Macht verloren hat. Er war sich seines Sieges zu sicher. Viele Menschen wie ich waren mit ihm unzufrieden – das hat schon der erste Wahlgang ganz deutlich demonstriert. In den fünf Jahren seiner Präsidentschaft ist viel Negatives in der Ukraine passiert. Es wurde viel versprochen und nichts gemacht. Dabei hatten ihn die Menschen in der Hoffnung gewählt, dass die Situation im Land besser wird. Stattdessen verschlimmerte sich aber das Leben in der Ukraine. Unter Janukowitsch (Anm.d.Red.: Präsident der Ukraine von 2010 bis 2014) bekam ich eine höhere Rente und konnte davon leben – ohne die Hilfe meiner Kinder. Heute beträgt meine Rente nur noch 75 Dollar, die Versorgungszahlungen und die Lebensmittelpreise haben sich erhöht, und ich kann nicht mehr ohne Unterstützung leben. Außerdem dauert der Krieg mit dem russischen Brudervolk immer noch an. Dabei sind wir orthodoxe Slawen, wir sind durch Sprache, Religion und Geschichte vereinigt! Mit viel Bitterkeit beobachte ich junge Menschen, die im Krieg Gliedmaßen verloren haben und bis zum Ende ihres Lebens Invaliden bleiben. Viele kamen überhaupt nicht zurück. Zudem sind wir hier fast alle russischsprachig. Doch fünf Jahre lang haben nationalistische Gruppierungen versucht, den Leuten Hass gegenüber den Russen und der russischen Sprache einzuflößen. Die haben sich wie Könige gefühlt, Menschen verprügelt und Konzerte russischer Künstler verboten. Ich habe nun die Hoffnung, dass mit der Wahl des neuen Präsidenten der Widerstand im Donbass aufhört, da die Ursachen dafür beseitigt werden.

Nadija, Studentin aus Nowohrad-Wolynskyj

Ich habe wirklich Angst, was mit der Ukraine passiert, wenn Selenskij zum Präsidenten wird. Wir haben in unserem Land gerade nicht die passende Situation, um mit ihm irgendwelche Experimente zu veranstalten. Ich will nicht sagen, dass Selenskij ein Präsident der abgehobenen Träume ist. Aber bei uns herrschen Krieg und Instabilität. Wenn wir jetzt noch Poroschenko auswechseln, wird die Ukraine vollends zum Irrenhaus. Und es ist lächerlich zu sagen, dass es unter Poroschenko eine Diktatur gegeben habe. Ich hatte bis zuletzt die Hoffnung, dass Selenskij ein bisschen herumspielt und dann seine Kandidatur zurückzieht – oder die Teilnahme am zweiten Wahlgang absagt. Es kann ja sein, dass er gute Ideen hat. Aber ich habe keine Ahnung, wie er sie realisieren will. Selenskij ist wie ein Richter, der keinen Tag als solcher gearbeitet hat. Er sollte sich eigentlich erstmal auf eine Stadt, wie etwa Kriwoj Rog, konzentrieren, dort trainieren – und nicht gleich das ganze Land zum Regieren bekommen. Viele haben seine Serie „Der Diener des Volkes“ (Anm.d.Red.: In der Comedy-Serie spielt Selenskij einen Lehrer, der zufällig ukrainischer Präsident wird und Filz und Korruption den Kampf ansagt) gesehen und denken nun, dass er genauso regieren wird. Ja, er hat Charisma und Talent, aber hinter ihm steht Kolomojskij (Anm.d.Red.: Dem ukrainischen Oligarch Ihor Kolomojskij gehört der Fernsehsender 1+1, auf dem Selenskijs Sendung läuft). Selenskij versucht nun zu beweisen, dass er eigenständig ist. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Da er nun aber gewonnen hat, muss Europa diese Entscheidung respektieren. Es ist ja die Wahl des Volkes! Und wenn die Leute denken, dass man Selenskij stürzen kann, wenn er ihnen nicht mehr gefällt antworte ich: „Habt ihr es nicht satt? Wollt ihr etwa noch einen Majdan?“

Andrij, Unternehmer aus Odessa

Mir persönlich ist es egal, unter welchem Präsidenten ich arbeite. Ich bin Vertreter des Mittelstandes, ein Machtwechsel wird wohl keine großen Auswirkungen auf mein Geschäft haben. Man lässt uns Kleinunternehmer in Ruhe – ob nun unter Poroschenko oder Selenskij. Denn wenn man uns den Zugang zum Markt erschweren würde, käme es schnell zu einem neuen Majdan. Wir arbeiten ja in erster Linie, um zu überleben – und nicht, um möglichst viel Geld zu verdienen. Allerdings ist es sinnvoll, neue Personen in die Politik zu bringen und die Machthaber, die das Land nur berauben und ausplündern, von den Schalthebeln der Macht zu entfernen. Poroschenko war in viele Korruptionsskandale verwickelt, daher waren nur wenige für eine zweite Amtszeit. Bisher gab es unter den ukrainischen Politikern an der Macht aber noch keine neuen Gesichter. Insofern gibt Selenskij nun Hoffnung auf Veränderungen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich ja zuletzt. Es ist schon klar, dass er wahrscheinlich nichts wesentlich Neues zur Ökonomie, Politik und Entwicklung dieses Landes beitragen kann. Er hat ja überhaupt noch kein Team! Aber er kann improvisieren, er ist doch ein Showman. Und ich bin mir sicher, dass er es schafft, eine professionelle Mannschaft zusammenzubringen. Und er muss ja auch gar nicht unbedingt ein guter Politiker sein. Denn nach der Wahl steht wahrscheinlich sowieso eine Reform der Verfassung an – und die Ukraine würde sich dann über kurz oder lang eher zu einer parlamentarisch-präsidial verfassten Republik entwickeln. Selenskij würde in einem solchen System dann eher so eine Art Symbolfigur sein.

Die Gespräche führte Ganna Novytska.

Lesen Sie auch ein MDZ-Porträt von Wolodimir Selenskij: http://mdz-moskau.eu/ein-komiker-macht-ernst/

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