Mensch bleiben in Theresienstadt

Auf der Bühne des Moskauer Theaters „Die Maske“ läuft das Musical „Cabaret Terezin“. Die Regisseurin Nina Tschussowa gewann in diesem Jahr den Preis „Hüter des Gedenkens“ des Russischen Jüdischen Kongresses. Die MDZ sprach mit der Schöpferin des Stückes, welches auf den Gedichten und der Musik von Häftlingen des Ghetto Theresienstadt beruht.

Die Regisseurin Nina Tschussowa bei der Preisverleihung im Rahmen der „Woche des Gedenkens 2024“ (Foto: Artur Nowosilzew/AGN Moskwa)

„Cabaret Terezin“ ist eine besondere Aufführung. Womit begann die Arbeit an diesem Projekt?

Der Pianist und Komponist Sergej Dresnin hat in den letzten 25 Jahren Stück für Stück Material über das Ghetto in Theresienstadt gesammelt, Tagebücher aus Archiven, Dokumente, Musik, Gedichte, mit denen die jüdischen Häftlinge aufgetreten sind. Vieles davon haben wir ins Russische übersetzt. Eines Tages entstand die Idee, mit diesem Material ein eindrucksvolles Bühnenstück zu schaffen. Michael Scheinin wurde der Produzent von „Cabaret Terezin“.

Anfangs spielten wir unser Stück in einem Kellerraum mit nur vierzig Plätzen. Wir probten heimlich, noch während der Pandemie, als die Moskauer das Haus überhaupt nicht verlassen durften. Ich war durch und durch von dem Stoff von „Cabaret Terezin“ durchdrungen, und das Leben selbst zeigte mir einige Möglichkeiten, mit dem außergewöhnlichen Material über den Holocaust umzugehen. Das alles konnte man sich nicht ansehen, ohne zu weinen! Bemerkenswert ist, dass unter diesen Archiv­funden auch satirische Liedchen waren, in denen die Häftlinge über sich selbst lachten!

Das ist wahrlich bemerkenswert. Wie stellte sich Ihnen in diesen Dokumenten das Theresienstädter Ghetto dar?

Das Ghetto befand sich auf dem Gelände der ehemaligen Garnisonsstadt Terezin in der damaligen Tschechoslawakei, es wurde im November 1941 in einem Gestapo-Gefängnis eingerichtet. Eines der Ziele dieses Ghettos bestand in Desinformation und Propaganda. Die Nazis waren bestrebt, die Weltöffentlichkeit zu überzeugen, dass in diesem „Ghetto für Betagte“ die Juden in keiner Weise unterdrückt würden. 1944 kam eine Delegation des Roten Kreuzes ins Ghetto und die Nazis spielten ihr ein angeblich „normales Leben“ der Häftlinge vor – mit Schule, Krankenhaus, Kindergarten, Aufführungen jüdischer Kinder.

Theresienstadt unterschied sich generell durch ein hohes Bildungs- und Berufsniveau der Häftlinge. Unter ihnen waren tatsächlich nicht wenige Wissenschaftler, Literaten, Musiker, die täglich dort Theateraufführungen veranstalteten. In diesem Ghetto gab es eine funktionierende Synagoge, wurden Zeitschriften herausgegeben sowie Ausstellungen und Vorträge organisiert. Kurzum, es wurde ein aktives kulturelles Leben geführt. Es konnte auch kein organisierter Widerstand festgestellt werden, es gab nur einzelne Fluchtversuche.

Aber dieses Ghetto war auch ein Teil des Systems der Judenvernichtung. In den Kriegsjahren kamen über 141 000 Menschen dorthin, von denen ungefähr 33 000 im Ghetto umkamen und 88 000 wurden nach Auschwitz und in andere Todeslager deportiert. Theresienstadt wurde von der Roten Armee am 9. Mai 1945 befreit, 11 000 Häftlinge hatten überlebt.

Szene aus dem Musical „Cabaret Terezin“ (Foto: Cabaret Terezin)

Haben die Häftlinge des Ghettos geahnt, was sie erwartet?

Ich denke, dass sie es ahnten, aber sie waren sich nicht sicher. Ungeachtet des ganzen Schreckens und der Düsternis des Geschehens versuchten sie, ein erfülltes Leben zu führen. Zum Thema unseres Bühnenstückes nahmen wir das Cabaret im Ghetto. Wir begriffen, dass wir mit diesem Material ein gefährliches Terrain betreten. Über sehr ernste Dinge erzählen wir in musikalischer Form, manchmal sogar mit Elementen der Satire. Aber all unsere Texte sind von den Häftlingen selbst geschrieben worden. Sie zeigen ihr Verhältnis zum Leben sehr genau, wenn sie in den tragischsten Situationen versuchten zu scherzen.

Sie begannen in einem Souterrain Ihr Stück zu spielen, wie ging es dann weiter?

Danach spielten wir im Zentralen Haus der Schauspieler. Und danach zog das Stück auf die Bühne des Theaters „Die Maske“ im Moskauer Palast der Jugend um, wo wir schon fünfhundert Plätze zur Verfügung hatten. Dahin lade ich auch die Leser Ihrer Zeitung ein. Die nächste Aufführung findet am 13. Mai statt.

2022 wurde „Cabaret Terezin“ zum besten musikalischen Bühnenstück in der Preiskategorie „Das musikalische Herz des Theaters“ gekürt. Ich muss hier auch unbedingt den Unternehmer Viktor Vekselberg, das Präsidiumsmitglied des Russischen Jüdischen Kongresses, welcher unser Projekt sehr unterstützt hat, erwähnen. Die Familie seines Vaters kam im Ghetto um. Ohne seine Unterstützung hätte es das Stück nie gegeben.

Die Ausreise der potentiellen Zuschauer, die in ihre historische Heimat aus Russland zurückkehren, schlägt sich nicht in den Besucherzahlen nieder?

Überhaupt nicht. Das ist ja, wie sich herausstellte, eine absolut nicht jüdische Geschichte. Die Menschen interessieren sich für unsere Geschichte und wollen auf keinen Fall, dass sich diese Schrecken wiederholen. Ich habe bemerkt, dass junge Leute völlig sprachlos aus dem Stück kommen, mit nach dem Gesehenen und Gehörten geweiteten Augen. Viele haben erst durch den Besuch unseres Stückes von dieser grausamen Geschichte erfahren, vorher hatten sie keine Ahnung vom Theresienstädter Ghetto. Das Stück besuchen unterschiedliche Zuschauer, aber alle müssen weinen, wenn Ilse das im Lager entstandene Wiegenlied „Wiegala“ singt. Sie singt es nicht auf Russisch und nicht auf Jiddisch, sondern auf Deutsch, aber das Publikum versteht dank der emotionalen Dichte dieser Komposition alles. Selbst wenn die Schauspieler manchmal vom Russischen ins Deutsche wechseln, beeinträchtigt das die Wahrnehmung der Zuschauer nicht. Natürlich haben wir anfangs befürchtet, dass für solch ein ernstes Thema wohl kaum jemand Karten kaufen wird. Aber wir hatten uns umsonst Sorgen gemacht.

Wie ist diese Geschichte für Sie? Sie haben doch jüdische Wurzeln?

Ja, habe ich. Und mir scheint, dass ich selbst auch eine Art Hüterin der jüdischen Kultur bin! (sie lacht) Ich habe noch ein jüdisches Theaterstück mit dem Titel „Dibbuk“ geschaffen. Ich bin begeistert von der jüdischen Literatur und Kultur. Mich beeindruckt die Verbindung von Weisheit, Tragikomik, Selbstironie des jüdischen Volkes, wenn die Menschen selbst unter schwierigsten Bedingungen Zeit für Lachen und Humor haben. Wenn wir die singenden und tanzenden Häftlinge des Theresienstädter Ghettos sehen, sollten wir heute in unseren Herzen dem Lächeln einen Platz einräumen, um sich zu umarmen und nicht zu streiten oder sich zu ent­-
zweien.

Über die „Woche des Gedenkens 2024“ im russischen Holocaust-Zentrum erschienen mehr als 400 Berichte über Veranstaltungen zum Thema Holocaust in 76 Regionen Russlands und Belarus. Gleichzeitig hört man oft: „Wie lange soll man noch darüber sprechen?“

Ehrlich gesagt, habe ich so etwas nie gehört. Der Holocaust ist eine Tragödie der gesamten Menschheit, der ganzen Welt, für Juden und Nichtjuden. Das ist eine Geschichte über Geisteskraft, Überleben und  die individuelle Wahl eines jeden Menschen. All das motiviert nach wie vor und gibt Hoffnung.

Das Gespräch führte Jana Ljubarskaja.


Zur Person

Nina Tschussowa

Nina Tschussowa machte ihren Abschluss als Schauspielerin in Woronesch und spielte danach auf der Bühne des Gorki-Dramatheaters in Samara. Nach ihrem Studium an der Fakultät für Regie an der Russischen Akademie der Theaterkünste inszenierte Nina Tschussowa an verschiedenen Bühnen. 2009 gründete sie ihr eigenes Theater. Seit 2023 ist sie Chefregisseurin des Theaters für Musikalische Komödie in Jekaterinburg. Tschussowas Aufführungen wurden auf internationalen Festivals in Deutschland, Griechenland, Rumänien und Japan gezeigt.

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