Meine Zeit als Niemand

Der Wehrdienst gilt vielen in Russland als Lebensschule. Anderen graut es davor. MDZ-Chefredakteur Igor Beresin hat seine Armeezeit einst relativ unbeschadet überstanden. Doch dass Eltern in Sorge um ihre Söhne sind, wenn die eine Uniform anziehen, kann er gut verstehen.

Wehrpflichtige bei ihrer Vereidigung in Moskau (Foto: Vtalij Belousow/RIA Novosti)

Vom 1. April bis 15. Juli treten mehr als 134.000 junge Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren ihren Wehrdienst in der russischen Armee an. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches, denn eingezogen werden Wehrpflichtige in Russland jedes Jahr entweder im Frühjahr/Sommer oder im Herbst/Winter. Dennnoch hatte die Nachricht von dem Erlass, mit dem Präsident Putin Ende März die aktuelle Kampagne in Gang setzte, einen besonderen Klang. Denn uniformiert werden die Rekruten in einer Zeit, die mit dem russischen Militäreinsatz in der Ukraine zusammenfällt.

Sie alle sind jemandes Kinder, Enkel, Neffen, Freunde, Geliebte. Noch gestern haben sie die Schulbank gedrückt, studiert, gearbeitet, unter uns gelebt. Nun verlassen sie ihr Zuhause. Wohin?

Zumindest nicht gen Ukraine, beteuern offizielle Stellen. Wiederholt wurde versichert, dass an militärischen Handlungen nur Offiziere und Zeitsoldaten teilnehmen, also Profis und keine Wehrdienstleistenden. Allerdings war es das Verteidigungsministerium selbst, das Anfang März einräumen musste, auch Wehrpflichtige seien ins Kampfgebiet geschickt worden. Der Sprecher der Behörde, Generalmajor Igor Konaschenkow, teilte damals mit, praktisch alle seien inzwischen wieder auf dem Weg nach Russland. Das ist schön und gut, aber was, wenn der Ober­befehlshaber es sich anders überlegt und die Entsendung Wehrpflichtiger in die Ukraine für gerechtfertigt und notwendig erachtet?

Doppeltes Glück

Ich kann mich gut an meine eigenen Gefühle und Gedanken erinnern, als sich – noch zu Sowjet­zeiten – abzeichnete, dass bald die Reihe an mich kommen würde, meine „Pflicht gegenüber der Heimat“ zu erfüllen. Begeistert war ich gewiss nicht. Ich hatte Angst.

Am Afghanistan-Krieg bin ich nur um ein paar Monate vorbeigeschrammt. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan war am 15. Februar 1989 abgeschlossen, Ende Mai desselben Jahres ging es für mich zum Sammelpunkt für Wehrdienstleistende. Ich hatte einfach Glück. Ich und all die anderen, die wir uns in jenem Frühjahr mit kahlgeschorenen Schädeln, in alten Jeans und geflickten Turnschuhen von unseren Müttern verabschiedeten: „Nicht doch, Ma. Wird schon gutgehen. Mach dir keine Sorgen.“

Damals dauerte der Wehrdienst nicht ein Jahr wie heute, sondern zwei Jahre, bei der Marine sogar drei. Ohne es zu wissen, hatten wir gleich doppelt Glück. Nicht nur kamen wir zur Armee, als der eine Krieg gerade vorbei war, wir waren auch wieder zu Hause, bevor der nächste begann. Am 11.  Dezember  1994 lief die Operation zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung – so hieß das offiziell – in Tschetsche­nien an. Obwohl ich froh sein konnte, dass sich mein Soldatensein in den fünf Jahren dazwischen abspielte, habe ich vollstes Verständnis dafür, wenn die Mütter und Väter von Wehrpflichtigen beunruhigt sind.

Schikane in den eigenen Reihen   

Es ist nämlich nicht so, dass es nicht auch in anderen Zeiten Grund dafür gegeben hätte und bis heute gibt. Wenn Neulingen unter psychischer und physischer Gewalt seitens Dienstälterer zu leiden haben, läuft das amtssprachlich unter der Bezeichung „vorschriftswidrige Beziehungen“. Bekannter ist die Schikane allerdings unter dem Begriff „Dedow­sch­tschina“ – Herrschaft der Großväter. Die „Großväter“ sind im Armeejargon Soldaten, die bereits einen Großteil ihres Dienstes hinter sich haben. Eine inoffizielle Hackordnung erlaubt es ihnen, Machtansprüche gegenüber Jüngeren geltend zu machen.

Wie man hört, hat sich die Situation durch die Verkürzung der Dienstzeit und durch Überwachungskameras in den Kasernen inzwischen gebessert, auch die Sitten sind heute um einiges entspannter als früher. Trotzdem gibt es hin und wieder plötzlich Nachrichten, dass junge Soldaten mal hier, mal da Misshandlungen durch Kameraden ausgesetzt waren.

Ein ungleicher Kampf

Ich hatte auch in dieser Beziehung Glück. Während meiner gesamten Dienstzeit hat man mich nur dreimal geschlagen oder zu schlagen versucht. Und nur einmal waren Dienstältere die Initiatoren der Prügelei. In den beiden anderen Fällen kam es nicht darauf an, wer von uns länger dabei ist, sondern was für Schulterklappen ich trug. Meine waren rot mit der Aufschrift CA für „Sowjetische Armee“. In der Dämmerung verwechselten einige finstere und offenkundig nicht sehr nüchterne Gestalten auf der Straße sie mit den weinroten der Inneren Truppen. Die waren im Volke nicht sehr beliebt, vor allem bei Leuten, die im Gefängnis gesessen hatten. Aber dieses Missverständnis klärte sich gerade noch rechtzeitig auf.

Ein andermal war ich allerdings geliefert. Von den ständigen Scharmützeln, die sich die Offiziersschüler der drei in Peterhof ansässigen Militärschulen lieferten, blieben auch wir Wehrpflichtigen nicht verschont. Ich hätte vier gut gebauten angehenden Seemännern allein nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Mich hat mein Kamerad Walera Sadoroschnyj gerettet, ein Mann wie ein Schrank. Er stammte aus Winniza in der Ukraine. Die Angreifer mussten an jenem Abend kräftig einstecken, während ich mit einem verrenkten Daumen davonkam. Ich kann ihn noch heute schlechter einknicken als sein Gegenüber an der anderen Hand. Aber das ist nicht der Rede wert, das Ganze hätte viel schlimmer enden können, wenn Walera nicht gewesen wäre. Wo er wohl heute ist und wie es ihm geht?

Kult der Stärke  

All das ist nun schon mehr als 30  Jahre her. Seit meiner Armeezeit hat sich viel geändert. Wehrpflichtige müssen nicht mehr möglichst weit von ihren Heimatorten dienen, Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Ich hoffe sehr, dass das Essen heute besser ist als damals. Und natürlich sollte ein Jahr leichter auszuhalten sein als zwei. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten, die scheinbar nicht totzukriegen sind. Dazu gehört ein irgendwie archaischer Kult der Stärke – ein Erbe der Vergangenheit, von dem es sich zu lösen gilt.

„Die Armee macht einen Mann aus dir“, sagt man. Das bezweifle ich. Ich war immer der Meinung, dass ein Mann davon profitiert, wenn er überzeugt von sich ist, wenn er sich traut, die Initiative zu ergreifen, und seine Kraft dazu dient, schwierige Aufgaben zu meistern – und nicht um Schwächere in die Enge zu treiben. Die Armee, die ich kennengelernt habe, konnte diese Eigenschaften nicht vermitteln. Eher im Gegenteil: Sie hat dem Soldaten vom ersten Tag an gezeigt, dass er ein Niemand ist.

Wehrpflichtige nicht in Kampfgebiete zu schicken, ist zweifellos richtig. Sie haben dort nichts verloren. Aber wozu werden diese Burschen dann überhaupt eingezogen? Komplizierte Militärtechnik verlangt Wissen und Übung. Sich innerhalb eines Jahres eine Spezialisierung so anzueignen, dass man sie gut beherrscht, dürfte kaum möglich sein. In meinem Truppenausweis war vermerkt, dass ich Musiker in Militärorchestern bin. Meine zwei Dienstjahre habe ich damit zugebracht, auf eine Große Trommel einzuschlagen. Schade, dass ich dieses Instrument nicht wie ein Schamane zu magischen Ritualen zu nutzen weiß. Ich würde die dunklen Wolken über Russland und der Ukraine verjagen.

Igor Beresin

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