Mein Moskau von Frank Ebbecke – 4

Die Moskauer Serie von Frank Ebbecke ist bei Weitem nicht zu Ende. In der 4. Folge berichtet er über den "Wilden Osten" der 1990er.

Straßenpolizei
Die russische Straßenpolizei bekam in den 1990ern neue Technik.
(Vitali Sosinow/Fotochronika TASS)

Die 1990er: Der „Wilde Osten“

Ein heiser brabbelndes Kraftwerk, aufbrüllend angeheizt durch rhythmisches Drücken aufs Gaspedal, verwegen-drohender Blick des verhinderten Straßenrennfahrers aus den Augenwinkeln auf die Gegner rechts und links. Da hieß es am Ampelrot, gebührend präventiven Abstand zu halten, bevor schon bei „Gelb“ der Startschuss fiel. Das letzte, was man sah, war der Schriftzug auf dem Heck solcher Wagen: „My life. My rules“. Und dann röhrten sie mit weit über 100 km/h die breiten Boulevards im Slalom um die Langsameren herum runter. Solche Auswüchse sind schon längst kaum mehr möglich, die ständige, unsägliche Autoflut sorgt für eine befriedende Verlangsamung. Das Konzept der asphaltierten Infrastruktur Moskaus hatte noch in den 1980ern mit einem Aufkommen von etwa 800.000 Fahrzeugen gerechnet – schon im Zuge der 2000er Jahre würden es dann über sechs Millionen. Diese Art von Fahrern waren auch die, die im Zentrum rücksichtslos die Gehwege mit der Stoßstange bis an die Hauswand straflos zuparkten und sich des Nachts bisweilen gegenseitige „Carshootings“ lieferten. Wenn übereifrige Ordnungshüter doch mal einen dieser Asphaltrowdies zu fassen kriegten, genügte meist ein vierstelliges Rubel-Scheinchen, um die Gemüter zu beruhigen. Zu den Zeiten erwiesen sich die Verkehrspolizisten mit ihren mageren Löhnen als wahre Magier, bei einer Kontrolle blitzschnell beschwichtigende Banknoten im Ärmel verschwinden zu lassen.

Nun ja, nicht, dass Expats die anarchisch-zügellosen Freiheiten hinter dem Steuer unbedingt guthießen, aber leidenschaftliche Autofahrer wie ich kamen auch auf ihre Kosten. Und lernten die oft unkonventionelle Berufsausübung der Uniformierten geradezu liebenswert zu schätzen – wie ich. Da war der, der mich und mein Auto nach einem Business-Dinner und einer nächtlichen Alkoholkontrolle (kurz unter 1 Promille) tatsächlich die restlichen zwei Kilometer zu meiner Parkgarage steuerte. Oder der, der mich bei Schnee und Eis, bei 30 Grad minus nach Überfahren eines Rotlichts (es war drei Uhr nachts und weit und breit kein weiterer Verkehrsteilnehmer zu sehen) anhielt und nach Vorzeigen meines Passes spontan anlächelte und gurrte: „Deutsch? Guttt! Dawai!“ Und dann Anfang der 2000er noch der blutjunge Polizist, der mich in meinem brandneuen, roten Porsche-SUV zur Dokumentenkontrolle herauswinkte und in passablem Englisch fragte, ob er sich denn mal kurz hinters Lenkrad setzen dürfe. Seine verschmitzte Erklärung: „I never saw and did sit in a car like this before!“ Na klar, durfte er. Und auch im rein beruflichen Umgang gab es Begegnungen der geradezu exotischen Art. Es war das entscheidende Meeting während der Auswahl der ersten Fachhändler für den US-amerikanischen Hersteller, zu dessen Launch-Team ich gehörte. Es ging um das deftige Einstiegsgeld für Markenvertrieb, Showroom-Gestaltung und Service-Werkstatt – der Anteil des von uns präferierten Kandidaten, das war eine zweistellige Millionendollar-Summe, augenfällig kein Problem für ihn. Denn er erschien in Begleitung seines Bodyguards und der überreichte uns kommentarlos prallgefüllte Plastiktüten einer westlichen Lebensmittelkette mit dem geforderten Betrag in bar – päckchenweise 100-Dollar-Noten. So ungewöhnlich für uns diese direkte Finanzierung auch war, wir nahmen dankend an und fanden schließlich eine Lösung, den Haufen Geld auf geschäftsmäßig üblicheren Wegen zu verbuchen. Er wurde einer unserer besten und treuesten Handelsvertreter. Bei einer anderen Gelegenheit ereignete sich besonders für die Kollegen aus dem Mittleren Westen der USA ein ebenso unerwartet-fremdartiges Erlebnis. Die beidseitige Unterzeichnung eines Vertrages über eine erkleckliche Sponsoren-Millionensumme für die Ausrichtung eines internationalen Basketball-Turniers um die Jahreswende mit hohen Vertretern der Stadtregierung endete mit reichlich Wodka und Cognac – um 10 Uhr morgens. Und dann mit feuchten, beidwangigen Küssen des ranghöchsten Empfängers für unseren Boss mit den denkwürdigen Worten: „Rrrrussia and Amerrrika arrre frrriends forrrever!“ Wenn es nur so gekommen wäre. Oder kommen würde.

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