
Aller Anfang ist (gar nicht so) schwer
Angekommen. 11. November 1995. Zum zweiten Mal nach meiner Neugier-Stippvisite 1978. Der initiale Beratungsauftrag war auf ein paar Monate terminiert – zum Markenaufbau von Ford Russia. Daraus wurden fünf Jahre. Und gleich kam der nächste – das Gleiche für Mazda Motors im Lande. Dann westliches „Aushängeschild“ einer aufstrebenden russischen Werbeagentur. Immer was Neues. Immer was anderes. Immer im Zyklus von fünf Jahren. Immer was mit Kommunikation zu tun – meine Gabe, meine Leidenschaft. War nie so geplant. Und heute immer noch hier. Recht so.
Die erste Herberge vor inzwischen stolzen 30 Jahren über lange Zeit wurde ein Hotelzimmer, wahrlich kein übles: das illustre „Metropole“. Mit zwei Kopfkissen unter dem Kopf vom Bett aus direkter Blick auf das „Bolshoi“. Der Bellboy hatte meine Bewunderung für den kristallenen Kronleuchter gespannt – süffisant lächelnd in ganz passablem Englisch: „Yes, the microphone is still in there, but we don’t use it anymore.“ Auf den breiten Fluren im 2. Stockwerk eine museale Fotogalerie illustrer Gäste – von Fidel Castro bis Konrad Adenauer. Vom Balkon über dem imposanten Ballsaal mit der riesigen Buntglaskuppel hatte Lenin (mit dem ich übrigens zufälligerweise das Geburtsdatum teile) einst proklamiert.
Die ersten aufregenden beruflichen Momente ereigneten sich auf dem riesigen Gelände einer ebensolch traditionellen Einrichtung – „Mosfilm“. Die staatsgelenkte Mammut-Filmproduktionsgesellschaft befand sich allerdings gebäudemässig in einem höchst bedauernswert runtergekommenen Zustand – aber dankenswerterweise nicht vom erfahrenen Personal vom Fach her – Regisseure, Kameraleute, Tontechniker, Aufnahmeleiter, Kulissenaufbauer, Filmcutter, zahllose Assistenten. Ich hatte schon in so einigen anderen Weltmärkten die Realisation der internationalen Werbeidee „Ford Today“ mit aufgebaut, Skripte geschrieben, überwacht. Ein erfolgreiches „Infomercial“-Konzept, 60 Sekunden werbliche Informationen im News-Stil von lokalen Schauspielern präsentiert, jeweils aufmerksamkeitsstark direkt vor den abendlichen Hauptnachrichten der nationalen Fernsehsender geschaltet „on air“. Aber noch nie im bitterkalten Winter mit zweistelligen Minus-Temperaturen wie zu Anfang der Dreharbeiten hierorts. In den Studios war die Heizung kaputt, das Wasser eingefroren, der Strom ausfallträchtig. Abgedreht haben wir trotz aller Widrigkeiten über 20 Episoden – mit charakteristisch-russischem, kreativem Improvisationstalent.
Große Mühe, für potentielle russische Kunden relevant-interessante Inhalte zu orten, war gar nicht vonnöten, es gab genug Themen schon aus der gemeinsamen Geschichte: Die berühmten, schwarzen T-Model-Automobile der Marke Ford wurden auch in der Garage von Zar Nikolaus II. in Verwendung genommen. Ford-Ingenieure aus Detroit waren 1929 an der Errichtung der gewaltigen Sowjet-Fließband-Produktion in Gorki (heute Nischni Nowgorod) beteiligt. Die ersten sowjetischen Lkw hatten als Basis die Modelle Ford-A und Ford-AA. Für die erste westliche Auto-Assembly Line im neuen Russland nahe St. Petersburg war bereits der planerische Grundstein des Werkes gelegt.
Und im Frühjahr 1996 gönnte ich mir ein sehr persönliches, unvergessliches Erlebnis – mein erstes orthodoxes Osterfest. Da konnte ich mir die stundenlange, nächtliche Feiertags-Zeremonie in der Moskauer Danilowskij-Patriarchen-Kirche wohl kaum entgehen lassen. Die glitzernd-glänzende Pracht des ausladenden Kirchenraumes. Die Kopfwand aus unzähligen, filigran ausgemalten Ikonen. Die weihrauchgeschwängerte Luft. Die Priesterschar mit ihrem brustlangen Bartschmuck in kunstvoll bestickten, wallenden Gewändern. Ihre beschwörenden, mysteriösen, nie enden wollenden Gesänge in allen Tonlagen. Die hunderten in Andacht versunkenen russischen Gläubigen (75 Prozent bekennen sich dazu) aller Altersklassen und sozialen Schichten, die sich dicht bis vor das Kirchenportal drängten. Wenn das ihre Art des Gottesdienstes war, hatte es mich gepackt. Und noch mehr die Geste eines jungen Geistlichen, der mich völlig unerwartet in der Menge ausgemacht hatte. Mit den Worten – auf Englisch „You are not from here, but God welcomes everybody in our holy community“ – überreichte er mir ein winziges, silbernes katholisches Kreuz mit eingraviertem orthodoxen Kreuzsymbol.
Ich trage es heute noch – an meinem Schlüsselbund. Hoffe, es kommt mir nie weg.