
1978: Erste Begegnungen der ganz fremden Art
Ich bin nicht besonders hochgewachsen, aber zum Einsteigen am Frankfurter Rhein-Main-Airport durch die niedrige Tür in die Iljusсhin-Maschine der sowjetischen Staatslinie Aeroflot war es besser, eine leichte Verbeugung zu machen. Drinnen eine geradezu wohnliche Atmosphäre mit zwar dünn gepolsterten Sitzen, aber warmen Farben und sogar dem Schmuckbild eines Birkenwaldes an der Stirnwand der Kabine.
Die Einreiseformalitäten in Moskau verliefen sprach- und problemlos, nur der aktuelle „Stern“-Lesestoff meines Arbeitgebers mit einem höchst attraktiven Frauenbild auf der Titelseite wanderte in die Mülltonne. Der Empfang der zugewiesenen Fremdenführerin Natalia (für zehn Tage ständige Begleiterin – bis auf die nächtlichen Schlafenszeiten) war so herzlich wie redegewandt – in Deutsch, durchsetzt mit russisch-rollenden R-Lauten.
Die Fahrt von Scheremetjewo ins Machtzentrum der Riesen-Kapitale in der repräsentativen Chaika-Limousine war lang und ließ meinen Mund weitgehend offenstehen: ultrabreite Paradestraßen, nur ungewohnt spärlich befahren, gesäumt von gewaltigen Wohn- und Geschäftsbauten im Stil des Sowjetischen Klassizismus, auch „Zuckerbäckerstil“ genannt. Dann vorbei am Staatsparlament, dem weltberühmten Bolschoi Theater, zum allmächtigen Kreml. Der ominöse Rote Platz, das global bekannte Postkartenbild der Basiliuskathedrale, das tiefrot-marmorne Lenin-Mausoleum, die ausladende Fassade des Kaufhauses GUM, um 1900 das erste seiner Art auf dem Kontinent, in geringer Entfernung eines der sogenannten „Sieben Schwestern“, Stalins sowjetische Antwort auf die aufstrebende US-amerikanische Hochhausarchitektur. Schier erschlagend pompös-schöne An- und Aussichten. Schließlich die Vorfahrt zum damals mit 3182 Zimmern größten Hotel Europas, dem schmucklosen Betonklotz „Rossija“ auf 240 000 Quadratmetern, heute längst der riesigen Sarjadje-Parkanlage gewichen. Gut so.
Da gingen die Staun-Erlebnisse gleich weiter – so fremdartig wie reizvoll, so verstörend wie lustig. Das erste Abendessen, obligatorisch im Hotel, denn Restaurants für westliche Fremdbesucher waren kaum zu finden. Eine reichhaltige, mundwässernde Menükarte in Englisch. Bis der junge, servile Kellner nach 30 Minuten Wartezeit bedauernd die einzig mögliche Auswahl bekanntgab: Leider gäbe es an diesem Tag nur Kiewer Kotelett. Nun denn. War lecker.
Später bot sich ein ähnliches Bild der kulinarischen Versorgungslage in so manchen Schaufenstern: auf Metern spärliche Pyramiden aus Broten und Fleischkonserven, vor dem Eingang lange Menschenschlangen mit typischen genetzten Einkaufstaschen, falls es doch etwas mehr zum Einkaufen gäbe. Aber abgemagert, ärmlich, ungeduldig, versteinert kamen mir die Leute keinesfalls vor. Eher in muntere Schwätzchen verwickelt, geduldig, widerstandsfähig – russisch eben.
Natascha schritt vehement zur Aufklärung. Durchaus wäre alles käuflich zu erstehen, auch vieles aus dem Westen, von Schokolade und Zigaretten bis hin zu Kühlschränken. Was sie nicht so klar erklärte, dass das nur in wenigen streng kontrollierten Läden gegen Devisen möglich war. Das sei doch nur, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Und die westliche Mangelwirtschafts-Propaganda sei wohl arg übertrieben.
Dazu ein sehr persönliches Ereignis am eigenen Leibe: In einem von ihr unbeobachteten Moment spürte ich, wie mich eine Hand geschickt in einen Torbogen zog. Ein junger Mann meines Alters, meiner Statur in einer adretten blauen Anzughose, wisperte hastig in gebrochenem Englisch: „Your Jeans, pleeease, 100 Dollars!“ Wie sollte das nur für mich ausgehen? Ohne Hose zurück zu Natascha auf die Straße? Gesagt, getan. In Sekunden hatten wir die Hosen getauscht, er lachte überglücklich und ich fand mich plötzlich in russischer Mode. Tauschhandel will gelernt sein und hat zu Zeiten im Lande kreativ-wilde Blüten getrieben.
Nein, das erste Mal durfte nicht das letzte Mal sein. Aber bis dahin sollten 17 Jahre vergehen – bis zu diesem geschäftlichen Anruf meines langjährigen US-amerikanischen Automobilkunden Ende Oktober 1995 aus Detroit: „Would you be prepared to join our ‚Russia Launch Team‘ for a year?“ Nur zwei Wochen später war ich wieder in Moskau. Aus dem avisierten Vertragsjahr wurden inzwischen bis heute schon volle drei Jahrzehnte. Aber davon die nächsten Male an dieser Stelle.