Mehr als bloßes Spiel: Kritisches Dokumentartheater im Moskauer teatr.doc

Theater

Moskaus erste Adresse für Verbatim-Theater /Foto: teatr.doc

Es ist nur ein kleiner Eingang in einem Hinterhof, aber er führt zu einem der wohl interessantesten Theater der Stadt. Wohl an keinem anderen russischen Theater wird dem alltäglichen Leben so aufmerksam und schonungslos auf den Zahn gefühlt.

Das teatr.doc ist kein klassisches staatliches Haus. Es ist unabhängig, eigenfinanziert, Untergrund – im wahrsten Sinne des Wortes. Als drei bekannte Dramatiker, die für ihre dokumentarisch orientierten Stücke keine Abnehmer fanden, 2003 beschlossen, ihr eigenes Theater zu gründen, wurde zunächst der leerstehende Keller eines Wohnhauses in der Trjochprudnij-Gasse zur Bühne. Erst 2014 fand sich die Spielstätte in der Malyj-Kasjonnyj-Gasse 13. Der Eingang blieb eine Hintertür, das Theater im Untergrund.

Auch inhaltlich ist das Theater alles andere als klassisch. Die meisten Stücke beruhen weniger auf einem literarischen Text, als auf Erlebnissen realer Personen – kombiniert mit viel Improvisation. Das namensgebende „.doc“ kommt von „dokumentarisch“ – auch an diesem Theater gibt es zwar Dramatiker, da sie für ihre Arbeit jedoch in erster Linie die genannten Erfahrungsberichte verwenden, wird die in der Malij-Kazennij-Pereulok 13 bevorzugte Form „Verbatim-Theater“ genannt, nach lat. verbatim, Wort für Wort.

Während sich die Stücke in den ersten Jahren vor allem mit gesellschaftlichen Randgruppen befassten, etwa mit Gastarbeitern, Drogenabhängigen oder HIV-Infizierten, nähern sie sich inzwischen immer wieder dem alltäglichen Menschen an.

Die Realität soll ungeschminkt dargestellt werden

„Sie fingen an, immer tiefer im Leben der ganz gewöhnlichen Menschen zu bohren“, so drückt es die russische Theaterkritikerin Jelena Kowalskaja aus. Das teatr.doc hat sich seitdem darauf spezialisiert, die alltägliche Lebensrealität in Russland (und seinen Nachbarländern) in ihren vielfältigen Facetten möglichst ungeschminkt darzustellen.

Unter den Stücken, die derzeit auf dem Spielplan stehen, basiert etwa „Der Krieg ist nicht weit weg“ auf dem Tagebuch eines einfachen Bürgers aus Lugansk, der dieses dem Theater auf eigene Initiative zugeschickt hat. Prozessakten aus den Gerichtsverfahren gegen ukrainische Dissidenten, darunter der derzeit immer noch in einem sibirischen Lager im Hungerstreik ausharrende Filmregisseur Oleg Sentsow, liefern Stoffe für den gewagten Spielplan. Und so ist die Konfrontation mit der Realität dem Theater nicht aus der sicheren Entfernung der Bühnenbretter bekannt – als das Theater 2014 einen Dokumentarfilm über das Blutvergießen auf dem Maidan zeigte, platzte die Polizei mitten in einer Vorführung in den Saal.

Ein Stück wurde bereits prämiert

Besonderen Erfolg brachte „Der Mann aus Podolsk“ – mit dem Preis für Dramaturgie des renommierten Festivals „Goldene Maske“. Hier wird der Hauptperson auf einem Polizeirevier ein unerwartetes Verhör bereitet. Während sie sich auf Folter einstellt, beginnen Polizisten ihn mit persönlichsten Fragen zu traktieren, welche den Protagonisten nach und nach fast den Halt im Leben verlieren lassen. Das Stück des Dramatikers Dimitrij Danilow, das an diverse Vorlagen aus der surrealen Literatur erinnert, entblättert ganz nebenbei die Lebensrealität dieses Menschen aus Podolsk, einer typisch grauen Moskauer Satellitenstadt auf halber Strecke der Elektritschka nach Kursk.

Und wie es im kritischen Theater ist, wird auch die Rolle des Schauspielers hier infrage gestellt. „Ich würde es nicht unbedingt ‚spielen‘ nennen“, beschreibt Anton Iljin seine Bühnenerfahrung.

So hat sich das auch in diesen Sommertagen zu besuchende teatr.doc zu einer der ersten Moskauer Adressen für das Verbatim-Theater entwickelt. Der Ruf seines mutigen Spiels reicht weit über Russlands Grenzen hinaus.

Luisa Marie Schulz

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