„Manche träumen, manche siegen“

Die Bilanz der jüngsten Regional- und Kommunalwahlen wirft die Frage auf, ob politische Konkurrenz in Russland noch eine Chance hat. In Moskau etwa verdoppelte „Einiges Russland“ die Zahl seiner Sitze gegenüber 2019, hat nun 38 von 45 inne. Doch bei der Moskauer „Abgeordneten-Akademie“, die unabhängige Kandidaten auf Wahlen vorbereitet, gibt man sich trotzdem kämpferisch.

Eine Sitzung der Mosgorduma, des Moskauer Stadtrats (Foto: Anton Denissow/RIA Novosti)

Der Großwahltag vom 8. September, als unter anderem 21 Gouverneure, 13 Regional- und 20 Stadtparlamente neu gewählt wurden, endete nahezu flächendeckend mit Siegen der Kandidaten von „Einiges Russland“. Im Vergleich zum vorhergehenden Wahlgang 2019 konnte die „Putin-Partei“, wie sie auch genannt wird, ihre Position deutlich verbessern und, wie es auf ihrer Webseite heißt, den „Status als führende politische Kraft des Landes“ untermauern.

„Einiges Russland“ siegt überall

Die Partei holte 82 Prozent der Stimmen bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten und 85 Prozent bei den Kommunalwahlen. Vor fünf Jahren waren es noch 66 beziehungsweise 64 Prozent gewesen. Die sogenannte Systemopposition indes musste schwere Verluste hinnehmen.

Bezeichnend, dass „Einiges Russland“ sogar in für die Partei traditionell schwierigen Regionen Erfolge einfuhr. In der Region Chabarowsk weit im Osten Russlands gewann sie 2019 bei Wahlen zum Regionalparlament nur sechs Prozent der Mandate – diesmal gewann sie 78 Prozent. Bei den Wahlen zum Stadtrat ging „Einiges Russland“ vor fünf Jahren sogar ganz leer aus. Ihr diesjähriges Ergebnis: 97 Prozent.

Auch eine Neuheit brachten diese Wahlen mit sich: Allein „Einiges Russland“ stellte 380 Teilnehmer der „militärischen Sonder­operation“ als Kandidaten auf, 308 davon zogen in die Parlamente ein.

Kein Pessimismus bei Trunin

Solche Wahlresultate kamen allerdings für niemanden überraschend. Die oppositionellen Informationskanäle konnten nicht mit staatlichen oder staatsnahen Medien konkurrieren. Selbst die sozialen Netzwerke seien während der Wahlen fest in der Hand der jeweiligen Administrationen gewesen, „so wie die traditionellen Medien“, konstatierte die auf Wahlen spezialisierte Vereinigung „Golos“ (in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet). In Oppositionskreisen war deshalb ein gesunkenes Interesse am Wahlkampf und Ernüchterung noch vor dem eigentlichen Wahltag zu verzeichnen.

Dmitri Trunin (50) hat allerdings keinen Pessimismus verspürt, wie er sagt. „Vielleicht lag das daran, dass ich voll involviert bin“, meint der Leiter der „Abgeordneten-Akademie“, einer NGO, die unabhängige Kandidaten weiterbildet und unterstützt. Der Rechtsanwalt engagiert sich seit Langem auch gesellschaftlich, hat sich einen Namen im Bereich des Umweltschutzes gemacht und stand an der Spitze diverser Organisationen aus dem Bereich des Verbraucherschutzes und der Zivilgesellschaft. Nach eigenen Angaben hat er selbst mehr als 50 Mal bei Wahlen in Moskau und der Moskauer Region kandidiert. Zwei Mal wurde er gewählt.

Wandel von unten angestrebt

Trunins „Abgeordneten-Akademie“ gibt es seit 2020. Ihre erste Veröffentlichung in den sozialen Netzwerken war ein Aufruf an die Gesellschaft, enger zusammenzurücken, um einen Wandel von unten zu bewirken: „Wir sind sehr viele, die nicht untätig bleiben können, wenn sie sehen, wie Jahr für Jahr die staatliche Propagandamaschine dem Volk und in erster Linie der Jugend weismacht, dass Proteste sinnlos und wir machtlos sind gegenüber dem staatlichen Apparat.“

Die Akademie hätten bereits Tausende Menschen durchlaufen, sagt Trunin: „Sie sind in der Politik aktiv, äußern ihre Meinung und lösen konkrete Probleme konkreter Menschen.“ Auf die Frage, ob sich das Projekt zur Aufgabe macht, Wahlsiege zu erringen, antwortet er mit einem Verweis auf den Bildungscharakter der Initiative. Allerdings: „Ein schlechter Soldat ist, wer nicht General werden will. Manche träumen davon, manche siegen auch.“

Interesse an Politik gewachsen

Wenn sich die Studenten trotz allem vom Pessimismus anstecken lassen, zieht die Akademie auch Psychologen hinzu. Sie berichten, wie das Ausbrennen nach einem anstrengenden Wahlkampf, für den Freizeit und Urlaub geopfert wurden, bekämpft werden kann oder wie man mit Enttäuschung bei den Wahlen umgeht. „Unsere Kandidaten kümmern sich ihr Leben lang um Probleme in der Wohnungswirtschaft, im Umweltschutz. Die Wahlkampagne ist eine Chance, die Aufmerksamkeit auf diese Probleme zu lenken. Nicht mehr und nicht weniger.“

Auch wenn es sich unglaublich anhört, aber gemessen an der Zahl der Akademie-Absolventen ist das Interesse an Politik in letzter Zeit noch gewachsen. Viele habe der Wahlkampf bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr beflügelt, als Oppositionskandidat Boris Nadeschdin die Hoffnungen der Unzufriedenen auf sich vereinte und zahlreiche oppositionell eingestellte Aktivisten bei seinen Wahlkampfstäben mitmachten.

„Nicht warten, sondern vorbereitet sein“

Nadeschdin wurde letztlich nicht zur Wahl zugelassen. Und generell wird es für unabhängige Kandidaten mit jedem Jahr schwieriger, an Wahlen teilzunehmen und dort Erfolge zu erzielen. „Ich habe mich 2013 erstmals zur Wahl im Stadtbezirk gestellt und bin auch gewählt worden“, erzählt Trunin. Schon damals sei das ein Kraftakt gewesen, seitdem hätten sich die Voraussetzungen weiter verschlechtert. „Aber sollen wir deshalb die Flinte ins Korn werfen?“, fragt er rhetorisch. Und fügt hinzu: „Wir sind überzeugt, dass es bald zu Veränderungen kommt.“

Der Leitsatz der „Abgeordneten-Akademie“ lautet: „Nicht warten, sondern vorbereitet sein“. So wie es aussieht, ist das die Antwort auf Trunins Frage.

Anastassija Archipowa

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