Lost Place: Durch Wald und Schnee zum „Märchen“

Wandern ist auch im Winter die beste Möglichkeit, das Moskauer Umland zu entdecken. Die MDZ hat sich zu Fuß durch Schnee und Eis zu einem verlassenen Pionierlager aufgemacht.

Sowjetische Kunst am Bau: ein riesiger Oktopus im verlassenen Pionierlager „Skaska“ (Foto: Maria Bolschakowa)

Wer im Moskauer Winter aktiv sein möchte, schnallt sich für gewöhnlich Schlittschuhe oder Ski an die Füße. Doch es geht auch gemächlicher. Auf Plattformen wie Instagram und Vkontakte bieten Wanderfreunde Tagestouren zu besonderen Orten rund um die russische Hauptstadt an. Die Auswahl ist groß. Letztendlich entscheide ich mich für die Wanderung zum verlassenen Pionierlager „Skaska“ (Märchen). Vor mir liegen 17 Kilometer bei Minusgraden durch den verschneiten Wald.

Die Tour zu buchen geht schnell. Schon eine halbe Stunde nach der Anfrage kommen die ersten Informationen. Nachdem die 1000 Rubel (elf Euro) Gebühr überwiesen sind, schickt Reiseleiter Dmitrij den Tagesplan und eine Packliste. Rucksack, 1,5 Liter Wasser, Taschenlampe und Geschirr für das Abendessen – dann kann es auch losgehen.

Eine bunt gemischte Truppe

Morgens um 8.30 Uhr trifft sich die Gruppe am Sawjolowoer Bahnhof. Nach und nach kommen Pärchen, eine Gruppe Mädchen und Leute wie ich, die alleine auf die Tour gehen. Dmitrij ist schon da und muss einigen Teilnehmern erst einmal beim Fahrkartenkauf helfen. Denn anscheinend sind sie schon lange nicht mehr ins Umland gefahren und wissen nicht mehr, wie man ein Ticket für die Elektritschka erwirbt.

Bis zu unserem Zielbahnhof Jachroma nördlich von Moskau braucht der Vorortzug gut eine Stunde. Zeit genug, sich innerlich vorzubereiten, die anderen in der Gruppe kennenzulernen und Dmitrij ein paar Fragen zu stellen. Seit mehreren Jahren organisiert er Wandertouren, wie auch sein Vater, erzählt Dmitrij. Zu Anfang ging es hauptsächlich für mehrere Tage an den Baikalsee oder in den Altai. Doch in letzter Zeit sei die Nachfrage nach kürzeren Winterwanderungen gestiegen, meint Dmitrij. Deswegen hat er verschiedene Touren für das Moskauer Umland entworfen.

Den Rest der Fahrt entscheide ich mich zu schlafen und etwas Kraft zu tanken. Eine gute Entscheidung, wie sich gleich nach der Ankunft in Jachroma zeigt. Unsere Gruppe mit 28 Teilnehmern schlängelt sich durch die kleine Stadt. Bergauf, bergab, immer wieder. Der erste Halt ist die Dreifaltigkeitskathedrale, auch als ewige Baustelle bekannt. Nach kurzem Durchschnaufen und vielen Fotos geht es weiter, wieder den Berg hinauf.

Durch den tief verschneiten Wald

Als wir aus der Stadt raus sind, erstrecken sich vor uns riesige schneebedeckte Felder. Für ein paar Minuten zeigt sich sogar die Sonne.Für uns das Zeichen, dass die Wanderung richtig begonnen hat. Es geht weiter einen Berg hinab in den Wald. Einen festgetretenen Weg gibt es nicht. Nur Markierungen an den Bäumen. Dmitrij kämpft sich durch den Schnee voran und macht es so für uns leichter. Die Stimmung ist gut, wir reden und scherzen miteinander. Langsam entsteht eine richtige Gruppe.
Wir überqueren eine Holzbrücke und lassen den Wald hinter uns. Noch ein paar Kilometer und wir stehen an der Schwelle zum „Märchen“.

Das verlassene Sanatorium wurde in der Sowjetunion für die Kinder der Mitarbeiter des Verlags für Kinderliteratur gebaut. Der Speisesaal, eine Bibliothek, vier Wohngebäude, ein Kinosaal, ein Klub und sogar Bunker – all dies wird seit mehr als 25 Jahren nicht mehr genutzt und verfällt langsam. Bekannt ist dieser Lost Place vor allem für seine Skulpturen und Dekorationen. Denn die sind immer noch in einem guten Zustand. Ein riesiger Oktopus, Seesterne, Goldfische, eine Muschel mit Perle, übergroße Blumen und viele andere interessante Figuren kann man im Pionierlager entdecken. Im Winter ist die Atmosphäre besonders. Denn wegen der kaputten Fenster sind viele Skulpturen und Verzierungen mit einer Eisschicht bedeckt.

So kommt das Gefühl auf, in einem wahren Wintermärchen gelandet zu sein. „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören“, sagt man. Vor den Figuren stehend kann ich nur zustimmen. Lange erkunden wir das Lager, gehen durch die Häuser und sind erstaunt und fasziniert von der Kreativität der sowjetischen Planer. Wäre es nicht so kalt, könnte ich hier noch mehrere Stunden verbringen.

Lagerfeuerromantik am Ende der Tour

Nach der Tour durch das Pionierlager kam einer der angenehmsten und erwarteten Teile der Wanderung – das gemeinsame Kochen des Abendessens am Lagerfeuer. Schnell waren Couscous mit Gemüse, eine georgische Chartscho-Suppe und Glühwein gekocht und wärmten uns nach einer langen und aufregenden Tour.

Am Ende des Tages saßen wir am Lagerfeuer und erzählten uns Geschichten. Und manch einer erinnerte sich an seine Zeit im Pionierlager. Ob die Geschichten wirklich alle stimmten, weiß ich nicht. Schließlich war kaum jemand in dem Alter, selbst noch Pionier gewesen zu sein. Vielleicht war es nur die Aura des „Märchens“, die die Fantasie des einen oder anderen beflügelt hat. Aber das ist gar nicht so wichtig. Was von der Tour bleibt, ist ein wundersamer Ort, den man gemeinsam mit anderen für sich entdeckt hat.

Maria Bolschakowa

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