Licht von innen

Komplette Dunkelheit zu erleben, ist eine ergreifende Erfahrung. Beim „Musical in the Dark“ müssen die Besucher ohne ihr Augenlicht auskommen und schärfen damit ihre anderen Sinne. Auch gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung sehbehinderter Mitmenschen.

„Musik hat in der Dunkelheit eine besondere Tiefe“, meint der musikalische Leiter Roman Stoljar. © facebook.com/lightinside

An diesem letzten Montag im August, dem 28., um Schlag 18.30  Uhr, ist es im vollbesetzten Saal des „SAP Digital Leadership Center“ im Moskauer Zentrum stockdunkel geworden. Es beginnt die Weltpremiere des ersten „Musical in the Dark“. Ein für viele zunächst und erkennbar verstörendes Erlebnis. Denn der menschliche Sehsinn macht doch 80 Prozent der sensuellen Reize aus – und der wird hier schonungslos ausgeschaltet. Ein beklemmendes Gefühl, wenn einem plötzlich schwarz vor Augen wird. Nichts als nichts. Da hilft nur, die Hand auf die linke Schulter der Person vor einem zu legen. Und dann die Führung eines blinden Mitwirkenden im Gänsemarsch aus dem gleißenden Tageslicht ins schwärzeste Dunkel. Fühlte man nicht den Boden unter den Füßen und einen Sitz unter sich, überwältigt erstmal ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, beinahe der Schwerelosigkeit. Aber dann, wenn die erste melodisch-sanfte Singstimme durchs Dunkel bricht, entfaltet sich schnell ein entspannendes Wohlgefühl. Noch nie ist man so weit weg gewesen. Von Hast und Hektik. Von Alltagsroutine und Vorurteil. Alles vollkommen ausgeblendet. 

Die Idee eines Sozialunternehmers 

Zur Handlung: Sweta, eine junge, erfolgreiche Stadtfrau, schläft auf der Datscha ihrer Großmutter ein und wacht in einer Umgebung auf, in der Licht und Augenlicht nur Legende sind. Da trifft sie auf Timon, einen fröhlich-freien Landburschen, der verspricht, ihr zu helfen, in ihre lichte Welt zurückzufinden. Zusammen begeben sie sich auf eine anstrengende, aber auch lustige Reise, treffen die fremdartigen Leute aus Timons dunkler Welt und bestehen so einige Abenteuer. Nach und nach beginnt Sweta zu verstehen, dass eine Welt in Blindheit so reich und schön sein kann wie ihre lichterfüllte. 

Tobias Reisner, der einstige Topmanager einer deutschen Weltfirma, für Jahre schon in Russland, steht für die einzigartige Idee des „Musical in the Dark“. Die war ihm bereits vor fünf Jahren während eines von ihm arrangierten Jazz-Konzerts im Dunkeln gekommen. Längst ist er sein eigener, erfolgreicher Sozialunternehmer, der seine ganze Kraft und Erfahrung auf die gleichwertige, gesellschaftliche Anerkennung und Integration von Mitmenschen mit Behinderungen, insbesonderer eben Erblinderter, ausgerichtet hat.

Das Musical wirkt als Ganzes

Michaela Steinauer, eine deutsche Jazz-Komponistin, -Pianistin, -Sängerin, vor Jahren eine rein zufällige Bekanntschaft Reisners, steht für die kreative Umsetzung – von Ton bis Text – seines ehrgeizigen Musicalplans. Sie schuf ein Gesamtwerk im wahrsten eklektischen Sinne: gekonnt, geschickt, gefällig arrangierte Musikelemente aus der Klassik, dem Jazz, aus oft russisch anmutenden Volksweisen, dargeboten über ein ausgeklügeltes, hochwertiges Soundsystem, das einen so faszinierend ummantelt, als sei man mittenmang im Geschehen. Die eigenbildnerische Illusion komplettieren ebenso technisch perfekt inszenierte Naturgeräusche wie stürmischer Wind und animierende Gerüche wie im Wald oder Duftessenzen. Alles vereint sich zu einem ganzheitlichen sensuellen Reizerlebnis – ausgenommen eben der visuellen Wahrnehmung. 

Realisiert von acht Musikern, darunter einem blinden Saxophon-
spieler, 14 Sängern – eine Sängerin blind – dem gesamten Technikteam und 18 blinden Gästeführern. Die feinst ausgebildeten Singstimmen der beiden Protagonisten Timon (Sergej Smolin) und Sweta (russisch „swet“ = Licht, Alisa Solowjowa) entführen in facettenreichen Tonlagen eindringlich und mitreißend. Die monatelangen Proben haben jedem einzelnen des großartigen Ensembles nicht nur die jeweils professionellen Fähigkeiten abverlangt, sondern eine neue, hohe Stufe an Einbildungskraft und Erinnerungsfähigkeit. Für die musikalische Realisation ist Roman Stoljar verantwortlich, Regie führt Wera Popowa.

Alles geschieht „live“, keinerlei vorfabriziertes Playback, alles wirkt zusammen und wird als Ganzes wahrgenommen. Es formen sich höchst persönliche Bilder im Kopf, höchst persönliche Gefühle im Herzen. Olga Markelowa, eine junge, eher kontrolliert wirkende Karriere-Russin aus dem Publikum, zusammen mit ihren zwei besuchenden Freundinnen aus Deutschland, gibt unumwunden und gerne zu: „Ich habe tausend Farben, alle Szenen und Personen deutlich vor mir gesehen, manchmal hatte ich Tränen in den Augen, es war romantisch und wunderschön.“ Eine heile Märchenwelt? Man fühlt sich tatsächlich und wohltuend an typische Gute-Nacht-Geschichten von Großmutter – der „Babuschka“ – erinnert, an den ewig gültigen Traum von einem behüteten Leben in der Natur und einem friedlich-fröhlichen, liebevollen Miteinander. Alles und alle sind miteinander verbunden.

Am Ende bleibt die Dankbarkeit

200 Besucher haben sich das überraschende, nahezu spektakuläre Erlebnis am ersten Tag nicht entgehen lassen, haben sich nach 70 Minuten beim ersten Lichtblick wieder aus dem Dunkel angerührt die Augen gerieben – dankbar, selbst wieder sehen zu können, aber auch andere Sinnesstärken verstärkt gespürt haben zu dürfen, zeitweise nachzuvollziehen, was es heißt, die Welt ohne Augenlicht erleben zu müssen.

Ein weiterer Aufführungszyklus soll zur Jahreswende in Moskau folgen: „Musical in the Dark“ – „Made in Russia“. Einer Initiative wie dieser, die über die Brücke eines musikalischen Unterhaltungsstücks auch mehr achtungsvolles Verstehen von Menschen mit Sehbehinderung, weit über karitative Wohlfahrtsaktionen hinaus, weckt, ist Erfolg und Glück zu wünschen.

Frank Ebbecke

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