Lermontow, das multidimensionale Genie

„Es gibt ein Gefühl der Wahrheit im Herzen des Menschen, ein heiliges Korn der Ewigkeit“, schrieb der Dichter Michail Lermontow. Nach dieser Wahrheit dürften heute auch mehrere Lermontow-Festivals suchen – mit unterschiedlichem Erfolg. Ein Blick aus Tarchani und Pjatigorsk.

„Nachtlicht“ der russischen Literatur: Michail Lermontow/ © wikicommons

Gemeinsam treten wie auf den leeren Weg. Eine stille Nacht voller Sterne herrscht über dem Dorf Lermontowo, hundert Kilometer westlich von Pensa, in der russischen Literatur bekannt als Tarchani. Hier wurde er vor 205 Jahren geboren, hier liegt er in einem Bleisarg tief im Boden begraben. Mein Lieblingsdichter, Michail Lermontow.

Am 6. Juni kommen hier auch mehrere Tausend Menschen zum Allrussischen Lermontow-Fest zusammen. Ich bin zum ersten Mal hier, genau wie meine Literaturlehrerin. Sie bedauert es sehr, wegen der schlechten Zugverbindung die Festlichkeiten nur am Ende mitbekommen zu haben. Der kalte Regen hatte die Menschen ja sehr schnell vertrieben. Es regne üblicherweise an diesem Tag, sagt man.

„Zuvor lebte ich für eine literarische Karriere, und nun bin ich ein Kämpfer“, schrieb der 18-jährige Dichter 1832 an seine Geliebte Warja Lopuchina. Man merkt schnell, wie wenig das Fest – zumindest in diesem Jahr –mit Lermontows Erbe zu tun hat: nur die wenigen Gedichte werden unter Kindern verteilt, und auf der großen Bühne im einstigen Landgut seiner Großmutter, heute ein Museumskomplex, singen Provinzstars Lieder der Kriegsjahre 1941-45 sowie moderne Unterhaltungssfolklore.

Junge Menschen marschieren zwar in Uniformen aus dem 19. Jahrhundert, aber dutzende Sicherheitsleute sind in moderner da, um den Gouverneur der Region zu beschützen. „Vielleicht will er so viele Leute hier nicht sehen“, vermutet meine Reisegefährtin. Schließlich sollten „Freiheit und Friede“ ihn umfangen. In dieser Nacht erinnern nur die wenigen  Pfützen an den andauernden Regen. 

Zwischen Liberalen und Patrioten

Russische Schüler lernen Lermontow gleich nach dem „Tageslicht“ der russischen Poesie, Alexander Puschkin, kennen. Lermontow dagegen als das „Nachtlicht“ damit und ein Gegensatz zu Puschkin. Die beiden gelten längst als Nationaldichter.

Mit beinahe 27 Jahren auf einem Duell im nordkaukasischen Pjatigorsk getötet, hinterließ er außer zahlreichen Gedichten einige Dramen wie „Maskarade“, geheimnisvolle Poeme, darunter „Dämon“ und „Der Mziri“, und den ersten russischen psychologischen Roman „Ein Held unserer Zeit“. „Lermontow warf in der russischen Literatur als Erster die religiöse Frage des Bösen auf“, las ich später bei Dmitri Mereschkowski im „Dichter des Übermenschentums“, als ich tiefer und tiefer in Lermontows Lyrik versunken war.

Ein Universum waren seine Gedichte für mich, seine dämonische, Nicht-von-dieser-Welt-Leidenschaft zu allem Irdischen. Man fühlt sich dann auf dem Fest in Tarchani irgendwie betrogen, wenn dieses Universum nur auf das Kriegerische reduziert wird.

Kaum ein anderer Künstler dürfte in Russland auch so gegensätzlich interpretiert werden wie Lermontow. Aus dem Gedicht „Lebe wohl, ungewaschenes Russland“  hatte der Ex-Präsident der Ukraine Petro Poroschenko aus Anlass der Visafreiheit mit der Europäischen Union zitiert. Auf das Gedicht verweisen heute auch Liberale, aus Kampfgefühl gegen die herrschende Macht.

Russlands Präsident Wladimir Putin, dem manche Merkmale des autoritären Zaren Nikolaus II. zuschreiben – und der mochte Lermontow gar nicht – sprach sich seit 2014 ebenso für Lermontow aus. „Er war natürlich ein Oppositioneller. Aber ich glaube, er war ein Patriot. Immerhin war er ein sehr tapferer Offizier, der unter die Kugeln für die Interessen des Landes ging“, sagte Putin mal vor den Lehrern. Er will mal auch zu Lermontow-Bändchen gegriffen haben.  

„Welche Kraft hatte dieser Mann! …“

„Lermontows Werk ist tatsächlich dreidimensional: seine Texte sind mit dem Willen des Himmels, der Erde und des Menschen gekoppelt. In der Suche nach Harmonie soll er seine Aufgabe gesehen haben“, sagt mir Michail Lermontow, der Leiter der Lermontow-Vereinigung.

Ende Juli veranstaltete er in Pjatigorsk ein eigenes Lermontow-Festival, der Kunst der Kaukasusvölker gewidmet. „Er nahm die ganze Integrität des Universums in sich auf, die nicht atomisiert werden kann. Die Menschen aber nehmen einzelne Dinge immer aus dem Zusammenhang heraus.“

Die Frage, wo in seinem Werk der Patriotismus sei und wo der Liberalismus, wo das ungewaschene Russland und die Größe des Universums und des Menschen sei, kann man Lermontow zufolge nur beantworten, wenn man das Ganze nicht zersplittert. In dem Fall sei Putins Ansprache verständlich, denn in Lermontows Werk könne man die Antworten auf seine Fragen finden, seine eigene Dimension. 

„Welche Kraft hatte dieser Mann! … Jedes Wort war ein Wort eines Menschen, der Macht hat … Hier ist einer auf der ewigen, mächtigen Suche nach Wahrheit. Wenn dieser Junge nur überlebt hätte, wären dann weder ich noch Dostojewski nötig gewesen“, schrieb Lew Tolstoj über den Dichter.

„Lermontow war übrigens Mitglied des sogenannten Kreis von Sechzehn, wo junge Leute, alle Adelige, sich dem Zaren gleich sahen“, sagt sein Nachkomme Lermontow weiter. Er hätte dem Landesherren offen sagen können, was ihm an Politik nicht gefällt, sollte aber wie die anderen im Kaukasuskrieg kämpfen – um später als erster das Wesen des Krieges künstlerisch zu hinterfragen.

Sein nachdenkliches Gedicht „Walerik“ mitten aus dem Kampf gilt in der Literaturforschung, genauso wie „Borodino“, als Grundlage für Tolstojs „Krieg und Frieden“.

Von Russland begeistert, hatte Rainer Maria Rilke Lermontows Verse ins Deutsche übersetzt. Rund 1200 Komponisten haben laut seinem Namensvetter zu Lermontows Gedichten Musik komponiert. Was ihn vor anderen Künstlern allerdings auszeichne, sei das Prophetische. Nicht nur den eigenen frühen Tod, sondern auch Russlands Zukunft soll er im „Tod des Dichters“, Puschkin gewidmet, auf seine Weise vorhergesagt haben.

„Dank dieser Dreieinigkeit – Dichter, Prophet und Kämpfer – dürften ihn zugleich Konservative, Liberale, Russen und Kaukasier mögen, denn er hatte alles erlebt und ist doch unteilbar“, sagt mir Lermontow. Die Kaukasier seien heute laut Lermontow auch dafür dankbar, dass er ihre Identität erfasst und widerspiegelt habe. Einer, der gegen die Kaukasier eigentlich kämpfen sollte.

Bewertung statt Analyse

„Über seelische Gemeinheit und das Ende des Helden des Stillstands“ schrieb der Schriftsteller Dmitri Bykow in Bezug auf Lermontow. Auch er verweist gerne auf das „ungewaschene Russland“, aber auch auf das Gedicht „Die Heimat“.

Der Dichter soll um den Tod selbst ersucht haben, so Bykow, mit Gemeinheit in der Seele lässt sich nicht viel schreibe. Statt des Kaukasus hätte es heute der Donbass oder Neurussland sein können, wo man ihn auch hätte so schnell töten können. Auch den Islam soll Lermontow Bykow zufolge dem Christentum vorgezogen haben.

„Bykow bewertet Lermontows Werk nicht, sondern er analysiert es wie leider viele“, kommentiert mein Gesprächspartner weiter. „Das ist konjunkturell und fast unzüchtig. Wenn ich höre, dass jemand die Gedichte zu interpretieren versucht, frage ich mich sofort: was will er?“ Lermontow soll überall sein, sein Stillstand sei seine Ewigkeit und sein Glaube sei universell. Als Christ getauft, habe Lermontow später klar auch andere Religionen zu schätzen gewusst. Jedoch sei Lermontow wohl der einzige russische Dichter, der sieben Gebete verfasst habe. In der russischen Philosophie gebe es doch ein Konzept der menschlichen Sensibilität, das Gefühltum, also die Fähigkeit, diese Welt in allen Formen wahrzunehmen, die der Schöpfer einem Menschen bereitstelle. Einzelne Formen des Lermontow-Werks zur Selbstdarstellung zu nutzen, sei profan, meint sein Nachfahre.

Wie lässt sich dann heute ein richtiges Lermontow-Festival gestalten, will ich wissen. „Da Lermontows Werk auch das Leben der kaukasischen Völker dokumentierte, versuchen wie hier in Pjatigorsk, das Authentische an ihrer Kunst zu pflegen.“ Schotten, Lermontow hatte schottische Wurzeln, aber auch die Chinesen würden hierher kommen. Sie würden sich für einen Dichter schon interessieren, den ihr Staatschef Xi Jinping seit einiger Zeit zitiere. „Sie wissen ja, China hat ein ziemlich hartes kommunistisches Regime“, sagt Lermontow, aber „Auch die Chinesen haben ihre Lermontow-Dimension gefunden, ihren eigenen -ismus“. Lermontow ist sich sicher:  Profan ist es, wenn man andere -ismen leugnet. Denn Lermontow, das Genie, sei ganzheitlich.

Liudmila Kotlyarova

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