Krisenmanager im Rollstuhl: Neue Interviewreihe auf YouTube und in der MDZ

Der Unternehmer, das Model, die Google-Managerin. In Online-Interviews auf einem eigens dafür eingerichteten YouTube-Kanal befragt Janina Urussowa (53), eine in Berlin lebende Russin, seit dem 9. September zehn Menschen, die trotz einer Körperbehinderung erfolgreich im Beruf sind. In der MDZ spricht sie über den Hintergrund des Projekts.

In Selenogradsk, einer russischen Kleinstadt an der Ostsee, wurde bereits 2014 ein barrierefreier Strand eröffnet. (Foto: Observer/NGO Kovcheg Kaliningrad)

Frau Urussowa, als ausgebildete Architektin und Kulturwissenschaftlerin, soziale Unternehmerin und Kommunikationsexpertin sind Sie neuerdings auch noch Video­bloggerin und haben einen YouTube-Kanal unter dem Titel „In Your Moccasins“ aus der Taufe gehoben. Wie kam das?

Als wir im Frühjahr alle wegen des Lockdowns zu Hause saßen, ist mir klar geworden, dass es da ja Leute gibt, die eine solche Situation schon erlebt haben: nämlich Menschen, die nach einem Unfall körperbehindert sind. Denen ist im Prinzip das Gleiche passiert. Sie waren von heute auf morgen mit einer komplett neuen Realität konfrontiert, in den eigenen vier Wänden eingesperrt, mit Ohnmachtsgefühlen. Auch sie wussten nicht, wie es weitergeht, sie mussten sich um ihre Existenz sorgen und sogar um ihr Leben, denn der Tod war immer nahe. Sie hatten dieselben Ängste wie viele in der Pandemie. Und da habe ich mir gesagt: Das sind doch Experten in Krisenbewältigung, die können uns erzählen, wie man sich verhalten muss.

Im Rahmen einer Interviewreihe sprechen Sie mit zehn Menschen, die im Rollstuhl sitzen, aber mitten im Leben stehen, darunter etwa Nina Wortmann, die seit einem Autounfall querschnittsgelähmt und eines der gefragtesten Rollstuhlmodels in Deutschland ist. Wie haben Sie Ihre Gesprächspartner gefunden?

Die meisten kannte ich bereits. Ich habe 2008 in Moskau zusammen mit dem deutschen Unternehmer Tobias Reisner das Inklusionsprojekt „Bezgraniz“ gegründet und angefangen, mich mit dem Thema Behinderung zu beschäftigen. Mein Ansatz war immer, Behinderte nicht als Sozialfälle zu betrachten, nicht als Opfer und auch nicht als Helden, sondern als normale Menschen mit normalen Bedürfnissen, die arbeiten, reisen, tanzen, sich verlieben, Familie haben. Mit „Bezgraniz Couture“ haben wir Mode für Behinderte gemacht, in Zusammenarbeit mit der British Higher School of Art and Design in Moskau ein Ausbildungsmodul für junge Modedesigner aufgelegt und die Bekleidung 2014 erstmals auf der Mercedes-Benz Fashion Week Russia vorgestellt. Das war ein Riesenerfolg, auch international. Mercedes hat daraufhin beschlossen, dass bei jeder seiner Modeschauen auch Menschen mit Behinderung auf dem Catwalk zu sehen sein werden. Das ging von Moskau aus.

Wen wollen Sie mit Ihren Videos erreichen?

Drei Zielgruppen, wobei ich zunächst nur an zwei gedacht habe. Da sind einerseits Menschen, die vom Lockdown kalt getroffen wurden und hier ein bisschen Lebenshilfe bekommen, Krisenbewältigungsstrategien von Menschen, die man so nicht erwartet. Die Message ist: akzeptieren und weitergehen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber da gibt es zehn Leute, die weit Schlimmeres durchgemacht haben.

Andererseits richtet sich das Projekt auch an die Wirtschaft. Denn Menschen mit Behinderung sind Kunden. Und sie sind Arbeitnehmer. Wenn ich sie in meiner Firma habe, helfen sie mir, entsprechende Produkte zu entwickeln und sensibilisieren mein Team auf allen Ebenen. Viele Unternehmen, selbst aus dem IT-Bereich, hatten im Lockdown große Probleme, ihre Belegschaft ins Homeoffice zu verfrachten. Aber jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie schon vor Jahren Mitarbeiter mit Behinderung eingestellt hätten, die zum Teil im Office arbeiten, zum Teil von zu Hause aus. Dann hätten Sie schon viel früher die gesamten Prozesse digitalisiert und die so schmerzhafte Umstellung in der Pandemie wäre Ihnen viel leichter gefallen, sowohl technisch als auch seelisch.

Roman Aranin, einer meiner Interviewpartner, ist Chef einer Firma für Rollstühle in Kaliningrad und selbst querschnittsgelähmt. Der hat unter der Krise nicht gelitten, denn sein gesamtes Business läuft schon seit vier Jahren auf Bitrix24 und vollständig online. Wenn Mitarbeiter zu Hause sind, können sie von dort arbeiten. Und keiner kommt mit Schnupfen ins Büro. Denn der Chef darf nicht krank werden.

Und die dritte Zielgruppe?

Die hat sich aus dem Gespräch ergeben. Das sind Leute, die gerade erst einen schweren Unfall hatten und damit klarkommen müssen, dass sie nie wieder laufen werden. Für die bricht eine Welt zusammen. Es dauert meist Jahre, bis sie sich psychisch wieder fangen. Aber es kann auch schneller gehen, wenn sie Schicksalsgenossen in der Reha treffen, die ihnen zeigen, dass das Leben trotz allem weitergeht – manchmal erfüllter als vorher. Von diesem „Danach“ wird in meinen Videos erzählt.


Zur Person: Janina Urussowa

Nach einem Architekturstudium geht die Moskauerin 1992 nach Tübingen, wo sie in Empirischer Kulturwissenschaft promoviert. Auf Aufträge bei der EXPO 2000 und beim Deutschen Hygiene- Museum in Dresden folgt die Leitung der Unternehmenskommunikation bei Siemens in Moskau. Später stellt sie zusammen mit Tobias Reisner ein Social Entrepreneurship im Bereich Inklusion von Behinderung auf die Beine. Mit „Bezgraniz Couture“ fördert sie die Ausbildung junger Designer an der British Higher School of Art and Design in Moskau. Ihr Mediaprojekt „Akropolis“ verändert die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in Russland.

Nach 16 Jahren Moskau lebt Urussowa seit 2018 mit ihrem Mann in Berlin. Sie berät Unternehmen beim Thema adaptive Kollektionen und ist Kuratorin für Adaptive Fashion bei der Rehacare für die Messe Düsseldorf.


Sie sprechen viel von „Disability Business Inclusion“. Was ist das?

Es geht um die Integration von Behinderung in die Businessabläufe von Unternehmen, und zwar von A bis Z. Arbeiten, Geld verdienen, Geld ausgeben, Steuern zahlen, ein vollwertiger Teil der Gesellschaft sein – das ist es, was für gleiche Augenhöhe sorgt. Nicht soziale Programme zu Gunsten von Behinderten. Die implizieren, dass wir stark sind und die schwach. Dass wir ihnen helfen müssen. Aber das macht den anderen hilflos.

Laut Weltgesundheitsorganisa­tion gibt es auf der Welt 1,3 Milliarden Menschen mit einer Form von Behinderung. Das ist ein ganz neuer Emerging Market, den die Industrie noch gar nicht auf dem Schirm hat.

Natürlich geht Inklusion nicht von heute auf morgen. Doch die Welt ändert sich, unsere abendländische Kultur öffnet sich. Zuerst waren es Menschen mit schwarzer Haut, die sich Rechte erkämpft haben. Dann Frauen, LGBT. Das ist ein Prozess der Humanisierung der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung haben auch lange um ihre Emanzipation gekämpft. Und sie werden sie erlangen.

Bei der Anzahl der Berufstätigen unter den Behinderten schneidet Russland im internationalen Vergleich eher schwach ab.

Das ist immer eine Frage der Perspektive. Für mich sind die Probleme, die es gibt, Kinderkrankheiten. Nehmen Sie die Barrierefreiheit. Wenn Sie Berlin oder Barcelona zum Vergleich heranziehen, dann ist Moskau nicht so gut aufgestellt. Aber wenn sie das heutige Moskau mit dem vor zehn oder fünf Jahren vergleichen, dann hat sich unheimlich viel getan.

Russland hat mit der Barrierefreiheit ja auch viel später angefangen. Insofern ist es vielleicht auch gar nicht verwunderlich, wenn es da einen Rückstand gibt.

Wissen Sie, ich würde so ein Wort wie „Rückstand“ gar nicht in den Mund nehmen. Jedes Land ist auf seinem eigenen Zeitstrahl unterwegs. Und Barrierefreiheit hin oder her, letztlich höre ich von den Behinderten in den USA oder in Deutschland dasselbe wie in Russland: Wir bekommen nicht die Jobs, man übersieht uns. Das heißt, die Barrieren sind im Kopf, und zwar überall.

Gibt es etwas, was in Russland vielleicht sogar besser läuft als anderswo?

Die Russen denken immer, dass Russland bei der Evolution hinterherhinkt. Es gibt sogar diese Floskel von den „entwickelten Ländern“, in denen sicher alles ganz toll ist. Aber gerade in Bezug auf unser Thema, auf kreative, innovative Projekte, die auch vom Business unterstützt werden, ist Russland meiner Meinung nach viel weiter. Junge Leute nehmen ihr Leben in die eigenen Hände.

Die Zivilgesellschaft, von der viele meinen, dass sie in Russland nicht existiert, sie existiert sehr wohl. Und das Thema der Inklusion ist ein wichtiger Gradmesser, wie sie wächst.

Das Interview führte Tino Künzel.

Die Interviews

Auf dem YouTube-Kanal „In Your Moccasins“ sind inzwischen vier der zehn geplanten Interviews mit Menschen mit Behinderung erschienen. Jeden Mittwoch kommt ein neues hinzu. Die Videos sind auf Wunsch russisch, deutsch oder englisch untertitelt. Den Anfang machte Anfang September Jewgenija Woskobojnikowa, ein Ex-Model, das seit einem Autounfall im Rollstuhl sitzt. Ausgewählte Interviews aus der Reihe werden auch in der „Moskauer Deutschen Zeitung“ veröffentlicht.

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