Kriegskommunismus oder Marktwirtschaft? Russland steht am Scheideweg

Die Anerkennung der „Volksrepubliken“ im Donbass und das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine führen unweigerlich zu Veränderungen des Status Quo im Weltmaßstab – in erster Linie in Russland selbst. Hier ist eine Revision der Werte und Prinzipien, die dem heutigen russischen Staat zugrunde liegen, in vollem Gange. Schon wird von „Nationalisierung“ und „Enteignung“ gesprochen.

Wladimir Potanin, einer der reichsten Russen, auf einem Foto von 2017. (Foto: Frolzart/Wikimedia Commons)

In der aktuellen Nachrichtenflut auf dem Laufenden zu bleiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Medien kommen gar nicht dazu, sich eingehend damit zu befassen, dass Unternehmen den russischen Markt verlassen oder bis auf Weiteres ihre Geschäfte einstellen. Diese traurigen Vorgänge werden mehr oder weniger nur konstatiert. Zum Großteil handelt es sich dabei um politische Gesten, doch manche sehen sich einfach nicht in der Lage, unter den gegebenen Umständen ihre Tätigkeit aufrechtzuerhalten.

Es geht an die Substanz

Doch wie unterschiedlich die Gründe auch sein mögen, das Ergebnis ist ein und dasselbe: Viele Wirtschaftszweige verlieren vorüber­gehend oder für immer bedeutende Player. Damit nicht genug, schlägt die Quantität in Qualität um, wie es bei Engels heißt. Denn die Erzeugnisse eines Herstellers werden nicht einfach von denen eines anderen abgelöst. Die Rede ist auch nicht von der viel diskutierten Importsubstitu­tion. Es geht um Veränderungen der Grundprinzipien.

Namen, die der breiten Öffentlichkeit bisher unbekannt waren, machen in der Presse die Runde, zum Beispiel der von Viktor Jewtuchow. Als sich der stellvertretende Industrie- und Handelsminister jetzt mit Vertretern aus dem Bereich der Metallurgie traf, ließen sich mit seinen Aussagen ganze Zeitungsspalten füllen. Gefragt, ob mit einem Warendefizit zu rechnen sei, antworte er, dass oft keinerlei Mangel herrsche. So wie beim Zucker: „Wir haben reichlich davon. Nur lagern ihn die Firmen, die ihn von den Betrieben abholen und an die Lebensmittelhändler ausliefern, lieber ein und warten darauf, dass der Zuckerpreis bei uns um 50 Prozent steigt.“ Der hochrangige Beamte sagte, dass die Regierung bei der Preisregulierung über ausreichend Vollmachten verfügt und aller Wahrscheinlichkeit nach davon auch Gebrauch machen wird.

„Rückkehr ins Jahr 1917“

Den Metallurgen gab Jewtuchow so einiges mit auf den Weg. Nach seinen Worten ist die Regierung mit den Preisen für die wichtigsten Metallprodukte unzufrieden, sie müssten gesenkt werden. „Im vergangenen Jahr haben Sie viel Geld verdient. Jetzt gilt es, für das Land zu arbeiten.“ Doch nicht nur der Inhalt des Gesprächs, sondern die Tonlage erregten Aufmerksamkeit. Wer bei der Preisgestaltung die Meinung des Ministeriums übergehe, der solle sich „aus dem Markt verziehen“. Ebenfalls will das Ministerium auch jene im Blick behalten, die sich diverse Finten ausdenken könnten, um Produkte teuer weiterzuverkaufen. Sie bekommen es im Falle des Falles mit der Staatanwaltschaft und dem Amt zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität (UBEP) zu tun.

Ergänzt um die durchaus reale Perspektive einer Nationalisierung der Vermögenswerte von ausländischen Unternehmen, die sich aus dem russischen Markt zurückziehen, erhält das Bild vertraute Konturen. Assoziationen zur Umverteilung von Eigentum nach der Oktoberrevolution sind unvermeidlich. Davon spricht auch Wladimir Potanin, 2020 Russlands reichster Unternehmer. Mit einer derartigen Beschlagnahme „kehren wir ins Jahr 1917 zurück“, so der Haupteigentümer von Nornickel. Die Folge einer solchen Maßnahme wäre demnach ein kompletter Vertrauensverlust seitens der Investoren, mit dem Russland noch in Jahrzehnten zu kämpfen hätte.

Steht der Markt in Frage?

Im Interview mit RBK präzisierte Potanin: „Nicht, dass ich unbedingt etwas gegen Nationalisierung hätte, ich bin entschieden gegen Beschlagnahme und Enteignung, sprich den entschädigungslosen Einzug von Eigentum.“ Unter Nationalisierung verstehe er eine externe Verwaltung des Besitzes, den die Eigentümer zurückgelassen haben, was es erlaubt, die Werte zu erhalten, die Produktion fortzusetzen und Löhne zu zahlen. Um private Investoren oder Käufer für solche Projekte zu gewinnen, müsse die Übernahme jedoch absolut legitim sein. „Andernfalls käme das eher Nötigung gleich.“ 

Fragen tun sich hier jede Menge auf. Wie steht der Staat zum freien Markt in Russland? Können solche Mittel und Methoden zeitweilig sein, so wie sie vermutlich gemeint sind, oder bedeutet ihre Umsetzung die vollständige Absage an Prinzipien, die bisher zumindest formal nicht angezweifelt wurden? Freut sich jemand über diese historische Wende?

„Schluss mit dem Staatskapitalismus“

Letzteres lässt sich mit Ja beantworten. Sowjetnostalgiker etwa werden sagen, dass man sich früher auch selbst versorgt habe und sich nun endlich nichts mehr vom Westen aufzwingen lassen müsse. Doch da gibt es zwei Probleme. Erstens entscheidet sich jeder normale Mensch, vor die Wahl gestellt, nicht für den Kriegskommunismus, sondern die NEP. Die Geschäftswelt will Freiheit und möglichst viel Realitätssinn. Der Milliardär Oleg Deripaska, dem wahrlich keine oppositionellen Neigungen nachgesagt werden können, äußerte sich auf Twitter wie folgt zur Anhebung des Leitzinses auf 20 Prozent durch die Zentralbank: „Wenn wir eine richtige Krise haben, dann brauchen wir auch richtige Krisenmanager und keine Fantasten mit einer Mappe voller Präsentationen. Die Wirtschaftspolitik gehört geändert. Es muss Schluss sein mit dem ganzen Staatskapitalismus.“

Zweitens ist im 21. Jahrhundert eine Selbstversorgung mit allem Nötigen einfach undenkbar. Bei der Stasi anfragen, ob man dort nicht vielleicht das Geheimrezept von Coca-Cola für das sozialistische Lager in Erfahrung bringen kann, hat sich auch erledigt. Zumal es das sozialistische Lager gar nicht mehr gibt.

Igor Beresin

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