Vom Stein und Sein: Klettern in Moskau und Umgebung

In Moskau gibt es eigentlich nichts, was es nicht gibt. Das gilt auch für Felsen. Doch sie befinden sich alle unter dem Dach von Kletterhallen. Wer an echte Felswände will, muss einen längeren Anfahrtsweg in Kauf nehmen. Das lohnt sich für Fans aber unbedingt, wie MDZ-Autorin und Klettertrainerin Sarah Bioly herausgefunden hat.

Geschafft! Unsere Autorin seilt sich nach dem Aufstieg im Kletterparadies von Worgol ab. © Emely Schalles

Ich presse meine Füße in hautenge Schuhe, ziehe meinen Gurt über die Hüften, zurre ihn fest. Vor mir ragen 15 Meter Fels empor. Wie eine Kampfansage prangt auf dem Gestein ein roter Stier. Die Route muss bezwungen werden, scheint er mir zu sagen. Ich greife nach den ersten Löchern, die den Kalk durchziehen wie einen Schweizer Käse, aber so glatt sind, dass die Finger kaum Halt finden.

Seit vier Jahren klettere ich, nutze jeden freien Tag, um in die Natur zu fahren. Als ich im September für zwei Monate aus Deutschland nach Russland kam, recherchierte ich tagelang im Internet, ob es nicht in der Nähe Felsen gibt. Schließlich hatte ich Erfolg. Fünf Stunden Autofahrt südlich von Moskau, unweit der altrussischen Stadt Jelez, stehen die Felsen von Worgol, auf Englisch als Vorgol Rocks im Internet zu finden und als Vorgol‘skiye Skaly auf Google Maps. Zusammen mit meinem Mitbewohner Slawa plante ich einen Trip. Abends hin, am nächsten Tag wieder zurück.

Bevor es losgeht, muss ich Seil, Zelt, Isomatten und Schlaf­säcke organisieren, während Slawa sein Auto repariert. Wir könnten es auch einfacher haben, denn in Moskau gibt es um die zehn Kletterhallen. Wozu also der Stress?

Die zwei Welten des Kletterns

Klettern in der Halle und am Felsen unterscheidet sich voneinander wie der Moscow Mule vom Bloody Mary. Beide Cocktails basieren auf Wodka, aber das charakteristische Aroma gewinnen sie erst durch die Zutaten. So schmecken Kletterhallen nach Magnesium, das den Mund austrocknet, und Felsen nach Erde und Sand, nach Urlaub, nach Freiheit.

Wir lassen Moskau auf der Autobahn hinter uns. Russischer Pop versucht das Röhren des Motors zu übertönen, während Straßenlaternen den Weg erleuchten. Unser Ziel trägt die Koordinaten 52°34’31.6“N 3821’07.6“E. Slawa kennt die Strecke, er fährt sie, wenn er seine Eltern auf dem Land besucht. Als ich den Trip vorschlug, war er begeistert. Nur selten kommt er raus aus der Stadt, vermisst das Landleben, in dem er aufgewachsen ist.

In Moskau, umgeben vom Licht der Stadt, vom Dröhnen der Autos und dem Geruch von Teer und Abgasen, vergisst man schnell, wie schön Stille sein kann – und Dunkelheit. Wenn ich abends von der Kletterhalle nach Hause fahre, färbt sich der Himmel zu einem verwaschenen Gelb. Wie der Polarstern strahlt die Stadt auf der Karte für Lichtverschmutzung im ansonsten fast sternenlosen Russland. Pflanzen erfrieren, weil sie die Nacht für den Tag und den Winter für den Sommer halten – zu spät merken sie den Jahreswechsel.

Sternbilder statt tagheller Nacht

Auf dem Land ist die Nacht übersät mit Sternen. Als wir ankommen, mummeln wir uns in unsere Schlafsäcke, legen uns vors Zelt, schweigen. Blätter rascheln im Wind. Ich höre uns atmen, jeder in seinem Rhythmus. Ich sehe den großen und den kleinen Wagen, die Milchstraße. Sternschnuppen fallen vom Himmel. Meine Füße werden eisig. Irgendwann sagt Slawa: „Nichts ist schöner als die Sterne.“ Als wir schlafen gehen, sind die Wolken bereits lila.

Am nächsten Morgen winden wir uns aus den Schlafsäcken und setzen unseren Weg fort. Wir haben an einem Aussichtspunkt übernachtet, jetzt müssen wir durch das gegenüberliegende Dorf weiter zu den Felsen. Wir kürzen über die Felder ab. Der Stress fällt von uns ab wie Ballast – in dieser Landschaft, in der nichts strukturiert erscheint, in der Felder nicht in Rechtecke eingeteilt wurden und keine Zäune signalisieren: Das ist meins.

Ich muss an den Philosophen Jean-Jacques Rousseau denken, der sagte: „Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemanden gehört.“ Wie ein Ohrwurm geistert der Satz durch meinen Kopf, während ich aus dem Autofenster blicke.

Hühner laufen über die Straße, Schafe weichen uns aus. An einem Bauernhof hält Slawa an, meint: „Ich frage kurz nach, ob die Bäuerin Eier übrig hat.“ Kurze Zeit später kehrt er grinsend durch das Tor zurück, in den Händen eine Plastikbox.

So wie zum Bloody Mary Oliven, Fenchel und Käsewürfel serviert werden, machen beim Klettern am Felsen die Natur, die Menschen, das Abenteuer den Trip zu einem Erlebnis. Ich will nach draußen, um den Wind zu fühlen, um die Aussicht zu genießen und die Sonne im Rücken zu spüren. Beim Moscow Mule steckt nur eine Limonenscheibe am Rand.

Endlich sind die Felsen erreicht.  Auf dem Bauch robbe ich von oben an die Felskante, hänge das Seil in einen am Stein montierten Umlenker ein, werfe anschließend beide Enden nach unten.

1:0 gegen die Schwerkraft

Am Felsfuß ziehe ich den Gurt an, binde mich an einem Ende ein und packe das erste Loch. Slawa sichert mich, während ich suchend die Wand nach einem Griff abtaste. Gezielt setze ich meine Füße, drehe mich ein, um weiter fassen zu können. Meter um Meter trotze ich der Schwerkraft und lache in Gedanken die Physik aus. Die Route ist einfach und auch für Anfänger geeignet. Genussklettern nennt man das.

Als ich oben bin, lasse ich los, sacke ein Stück ins Seil. Ein warmes Gefühl breitet sich im Magen aus. Unter mir ragen die Felsen empor. Links davon: ein Meer aus Gold. Ich blicke über die Felder und den Fluss Worgol dazwischen. Eine Böe zerzaust mir die Haare, fegt über vertrocknete Grashalme hinweg, die sich wie Wellen auf und ab bewegen. Ich schließe die Augen, drehe mein Gesicht zur Sonne.

Wenn ich in Moskau Klettern gehe, dann um für alpine Routen im Gebirge zu trainieren. In der größten Kletterhalle, dem „Lime­stone“, hat jeder Bereich einen eigenen Namen. „Magic Woods“, „Fontainebleau“ – Namen von berühmten Gebieten, in denen an Felsblöcken geklettert wird. Nur liegen sie in der Schweiz und in Frankreich.

Bald wird Klettern olympisch

In Moskau ist das Bouldern – Klettern ohne Seil – populär. Die Routen sind kürzer, weniger Ausdauer, mehr Kraft ist nötig. Matten federn die Stürze ab. Regelmäßig werden Wettkämpfe veranstaltet. Die Leistungskurve beim Klettern stagniert nicht, sondern steigt steil an. 2020 werden das erste Mal Kletterer bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio antreten. Bewertet werden Schwierigkeit und Schnelligkeit. Aus dem Sport draußen hat sich ein neuer Sport drinnen entwickelt. Und auch wenn ich einen Favoriten habe, sie schmecken beide – der Moscow Mule und der Bloody Mary.

 

Das geht in Moskau: Boulderhallen im Selbsttest

In der größten Boulderhalle von Moskau überzieht Magnesium die Matten mit einem weißen Schleier. Im „Limestone“ wird ohne Seil geklettert, dafür sind die Wände niedriger. Kletterer stehen vor der Wand, strecken ihre Arme aus und greifen Luft. In Gedanken überlegen sie, wie sie am besten die Griffe fassen – von welcher Seite, in welcher Reihenfolge –, um möglichst kraft­sparend ans Ziel zu kommen. Der Anfang und das Ende der Boulderrouten sind mit Zetteln markiert. Die Schwierigkeit liegt in den Griffabfolgen dazwischen  – sie sind wie Rätsel. Was viele mit Kraft kompensieren, lösen andere durch Technik. Zwar ist das Ziel das gleiche, doch die Lösung unterscheidet sich.

In der Halle helfen Boulderer sich gegenseitig, die Rätsel zu lösen. Nebenan gratuliert eine Trainerin einem Anfänger, der gerade eine Route geschafft hat. In den Boulderhallen in Moskau kann man sich Trainer buchen, um die Basistechniken erklärt zu bekommen. Nur in welcher Halle anfangen?

Im „Limestone“ feuern sich Boulderer gegenseitig an. © Sarah Bioly

Ich habe drei Hallen in Moskau ausprobiert. Hängen geblieben bin ich im „Skalodrom Limestone“. Dort ist jede Route einzeln mit den französischen Schwierigkeitsgraden von 5c bis teilweise 7b+ beschriftet. In den anderen Hallen stand ich zunächst oft ratlos vor den Routen, musste die Halle erst kennenlernen, um zu wissen, welche Boulder vom Schwierigkeitsgrad zu mir passen.

Trotzdem besitzt jede Halle ihren Reiz, denn überall sind die Boulder anders geschraubt. Im „Limestone“ sind die Routen höher, im „Atmosfera“ gibt es mehr Quergänge und das „Rock Zone“ gleicht einer Höhle, in der die Fallhöhe geringer ist. Und was ist mit Seilklettern in Moskau? Anfänger können es im „Limestone“, im „Atmosfera“ oder im „Skala City“ ausprobieren. Doch wer seine Ausdauer fürs Gebirge trainieren möchte, sollte sich seinen Atem lieber für die Felsen in Worgol aufsparen.

Sarah Bioly

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