
Jelisaweta Michailowa
Der Vater von Jelisaweta Michailowa, Semjon Michailow, bekleidete in den 1930er Jahren verantwortliche Positionen in der chemischen Industrie des Landes. Der junge Spezialist erhielt sogar eine Wohnung in Moskau. Ende 1937 verschwand er plötzlich. Seiner Familie wurde später mitgeteilt, dass er wegen antisowjetischer Aktivitäten verhaftet worden war. Die Strafe: acht Jahre Lagerhaft in der Nähe von Magadan.
Im Jahr 1946 kehrte Michailow zurück. Es wurde ihm verboten, in der Hauptstadt zu leben, und die Familie zog in eine kleine Stadt in Moldawien, Orhei. Dort wurde im Januar 1948 ihre Tochter Lisa, Jelisaweta Michailowa, geboren. Doch schon bald wurde der Vater erneut verhaftet. Diesmal wurde Semjon Michailow für 25 Jahre in die Region Krasnojarsk geschickt. Nach Stalins Tod kam er frei. Aber er blieb dort bis zu seinem Tod im Jahr 1974, da er bereits eine andere Familie gegründet hatte. Er wurde rehabilitiert. Lisa, ihre Schwester und ihre Mutter lebten in Moldawien.
1991 erließ Russland ein Gesetz „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“. Diesem Gesetz zufolge hatten die Opfer Anspruch auf eine Wohnung in der Stadt, in der sie zum Zeitpunkt der Repressionen lebten. Die Michailows machten sich Hoffnung, dass auch sie eine Wohnung in Moskau bekommen könnten. Sie begannen, die erforderlichen Unterlage zu sammeln. Doch Jelisaweta Michailowas Mutter starb, und es schien unmöglich, mit einer Entschädigung zu rechnen: Das Gesetz erkannte die Kinder von Gulag-Opfer nicht als Opfer der Repression an. Das änderte sich erst 1995. Jelisaweta und ihre Schwester erhielten die russische Staatsbürgerschaft und zogen nach Russland. Sie kauften ein altes Haus in der Nähe von Wladimir, 300 Kilometer von Moskau entfernt, und begannen, sich um eine Entschädigung für die alte Wohnung in Moskau zu kümmern.
Alissa Meißner
Die Zeitung „Kommersant“ erzählt nicht nur die Geschichte von Jelisaweta Michailowa, sondern auch die von Alissa Meißner. Sie ist eine Verwandte des berühmten Moskauer Apothekers Wladimir Ferrein. Vor der Revolution half die Familie Ferrein dem Großvater von Alissa Meißner, Richard Meißner, auf eigenen Beinen zu stehen. In Moskau hat er auch als Apotheker gearbeitet.
1941 wurden sein Sohn Leonid Meißner, seine Frau und seine beiden Töchter als Deutsche nach Kasachstan deportiert. Leonid Meißner konnte die Strapazen nicht ertragen und starb im ersten Jahr der Deportation. Seine Frau blieb im Gebiet Karaganda, seine Töchter wurden zur Arbeitsarmee eingezogen und zum Holzfällen ins Gebiet Kirow geschickt. Die jüngste, Margarita, starb, und die älteste, Anna, heiratete in einer Sondersiedlung. Im Jahr 1950 kam ihre Tochter Alissa auf die Welt. 1956 wurde das Sondersiedlungsregime für Deutsche aufgehoben, und die Familie erhielt das Recht, die Siedlung zu verlassen, aber der Vater, einziger Schmied in der Siedlung, durfte nicht gehen. So blieben sie in der Region Kirow „hängen“. Vor ihrer Deportation hatte Anna Meißner im Zentrum von Moskau gelebt. Seit den 1990er Jahren kämpft ihre Tochter für das Recht „ihre“ Wohnung in Moskau zurückzukriegen.
Jewgenija Schaschajewa
Der Vater von Jewgenija Schaschajewa, Boris Tscheboksarow, wurde 1911 in der Schweiz geboren, wo sich sein Vater Nikolai gesundheitlich erholte. Später begann er in Harbin im Fernen Osten zu arbeiten, wo er mit Japanern Kontakt hatte. 1925 zogen die Tscheboksarows nach Moskau um. Boris wurde Biochemiker. Im Jahr 1937 kamen er und sein Vater wegen angeblicher Spionage für Japan in Haft. Nikolai Tscheboksarow wurde erschossen. Boris wurde für acht Jahre in ein Lager im Norden geschickt. Dort, in der Komi ASSR, lernte er Galina Tretjakowa kennen. Sie hatte drei Jahre in Deutschland als Ostarbeiterin gearbeitet. Weil jemand den sowjetischen Behörden steckte, dass sie in der deutschen Kommandantur tätig gewesen sei, ging ihr Leidensweg auch anschließend mit einer Verbannung zu den Komi weiter. Bald darauf wurde Jewgenija in der Sondersiedlung geboren. Sie lebt noch heute in einer kleinen Siedlung in der Republik Komi.
Ihr Vater träumte sein ganzes Leben davon, nach Moskau zurückzukehren, wo er seine jungen Jahre verbracht hatte. Er wurde rehabilitiert, anders als lange Zeit seine Frau. Sie konnte nicht beweisen, dass das mit der deutschen Kommandantur nicht stimmte. Der Familie gelang es, zu rekonstruieren, in welchen polnischen Lagern sie beschäftigt gewesen war. Erst 1991 wurde auch Galina Tretjakowa rehabilitiert. Danach bemühte sich Jewgenija um die offizielle Anerkennung als Opfer politischer Repressionen. 2014 bestätigte das Gericht der Republik Komi die Rehabilitierung väterlicherseits. Zu diesem Zeitpunkt war Jewgenija Schaschajewa 64 Jahre alt.

sprach zur Verteidigung der Kinder des Gulag im Jahr 2020 (Foto: YouTube)
Drei Frauen
Nach der ersten Fassung des Gesetzes „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ hatten die Rehabilitierten und ihre im Exil geborenen Kinder das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren – in die Städte, in denen sie vor den Repressionen gelebt hatten. Und sie sollten vorrangig eine Wohnung erhalten. Später wurde Artikel 13 des Gesetzes, der dies vorsah, geändert: 2005 verschwand das Wort „vorrangig“ aus dem Text, und die Lösung des Problems wurde den Regionen übergaben. Sie konnten selbständig entscheiden, wie und an wen sie die Schlüssel für die Wohnungen vergeben. In Moskau wurden die Rehabilitierten zusammen mit Waisen, Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Tschernobyl-Opfern in die allgemeine Warteschlange aufgenommen. Außerdem mussten sie seit mindestens zehn Jahren in der Hauptstadt leben, keine eigene Wohnung haben und arm sein.
Menschen wie Alissa Meißner, Jelisaweta Michailowa und Jewgenija Schaschajewa werden in Russland offiziell als „Kinder des Gulag“ bezeichnet. Es waren diese drei Frauen, die sich zusammenschlossen, um für das Recht auf Rückkehr in ihre Moskauer Wohnungen zu kämpfen, wo jemand von den Eltern vor der Repression lebte. Sie zogen bis vordas russische Verfassungsgericht.
Im Dezember 2019 stellte sich das Gericht auf ihre Seite und erkannte an, dass die in der Hauptstadt geltenden Beschränkungen für die Bereitstellung von kostenlosem Wohnraum für unterdrückte Personen nicht mit der Verfassung und auch nicht mit dem föderalen Gesetz übereinstimmen.
Im Jahr 2020 verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, wonach die Aufnahme in die allgemeine Warteschlange möglich war, ohne dass die aktuelle Aufenthaltsdauer an dem Ort, an den die Rehabilitierten zurückkehren wollten, berücksichtigt wurde. Zwei der drei Antragstellerinnen schafften es, sich in Moskau in die Warteschlange einzureihen. Ihr Platz war etwa an 54 000. Stelle. Angesichts des Verlaufs der allgemeinen Warteschlange hätten die Frauen den Erhalt der Schlüssel nicht erlebt.
Die Wohnungsfrage
Ein Gesetzentwurf der Duma-Abgeordneten Sergej Mironow und Galina Chowanskaja von der Partei „Gerechtes Russland“ wurde gleichzeitig abgelehnt. Sie schlugen vor, die oben genannten Verpflichtungen den Regionen zu entziehen und sie auf die föderale Ebene zu übertragen. Schließlich ist Russland der Rechtsnachfolger der Sowjetunion, die Repressionen gegen diese Menschen begangen hat. Die Abgeordneten schlugen vor, anstelle von Wohnungen eine finanzielle Entschädigung zu gewähren, und erinnerten daran, dass nur etwa 300 Personen Anspruch darauf haben. Aber offenbar traute sich der Staat nicht, selbst für eine so geringe Zahl von Menschen Geld bereitzustellen.
Die Frauen zogen vor Gericht. Mitte Januar 2025 wies das Bezirksgericht Presnenski in Moskau das Bürgermeisteramt an, Jelisaweta Michailowa eine Zahlung für den Kauf einer 33-Quadratmeter-Wohnung in Moskau zu leisten. Die Hauptstadtbehörden müssen diese Entscheidung innerhalb von drei Monaten nach ihrem Inkrafttreten umsetzen. Die Medien haben jedoch bereits berichtet, dass die Moskauer Behörden diese Entscheidung anfechten werden.
Die Fälle von Alissa Meißner und Jewgenija Schaschajewa sollen am 25. Februar 2025 vor Gericht verhandelt werden.
Ljubawa Winokurowa, Olga Silantjewa