Jugendcamp Artek: Attraktives Rädchen im System

Die „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ nordöstlich von Berlin ist schon lange Vergangenheit. Aber das Kinderferienlager Artek auf der Krim, nach dessen Vorbild sie in den ersten Jahren der DDR angelegt worden war, besteht auch heute noch und wird von Russland sogar weiter ausgebaut. 100 Jahre nach seiner Gründung ist es für die einen ein legendärer Ort der unbegrenzten Möglichkeiten, wo sich moderne Infrastruktur und patriotische Erziehung treffen, für die anderen ein Instrument der Indoktrinierung, belegt mit Sanktionen.

Vorzugslage: das „Meerlager“ zu Füßen des Artek-Hausbergs Aju-Dag (Foto: Tino Künzel)

100 Jahre Eigenwerbung

Das „Internationale Kinderzentrum Artek“ ist der unbestrittene Star unter den Kinderferienlagern sowjetischen Ursprungs. Offiziell beginnt seine Geschichte am 16. Juni 1925, als 80 tuberkulosekranke Kinder vier Armeezelte an der Schwarzmeerküste der Krim beziehen. Im Jahr darauf empfängt man in der malerischen Bucht zu Füßen des Krimgebirges erstmals auch ausländische Kinder – aus Deutschland.

Seine Sturm- und Drangzeit erlebt Artek in den 1960er Jahren. Damals wird es zu jenem Pionierlager der Superlative ausgebaut, das attraktiver ist als die Sowjetunion selbst. Mit seinem Überfluss an Möglichkeiten zur Beschäftigung, an pädagogischem Anspruch, südlicher Sonne und fröhlichen Kindern schmeckt es nach jener lichten Zukunft, die den Sowjetbürgern in Aussicht gestellt wird, aber einfach nicht näher rücken will. Als i-Tüpfelchen kommen immer wieder Prominente zu Besuch, von Lew Jaschin und Juri Gagarin bis zu Politikern aus dem In- und Ausland.

Seit der Übernahme der Krim durch Russland 2014 wird auf dem über 200 Hektar großen Gelände (flächenmäßig vergleichbar mit dem Großen Tiergarten in Berlin und dem Gorki-Park in Moskau) kräftig investiert und modernisiert. Heute kann Artek noch mehr Kinder aufnehmen als zu Sowjetzeiten. 1500 bis 3000 pro dreiwöchigem Durchgang sind es je nach Jahreszeit. Die Teilnahme ist kostenlos und eine Belohnung für schulische oder außerschulische Leistungen. Das Zentrum besteht aus neun Unterlagern. Ein zehntes – das „Sonnenlager“, terrassenförmig am Ufer angelegt – soll zum 100. Jubiläum eröffnet werden.

Ein Prestigeobjekt und seine inneren Werte

Wenn in Russland über Artek gesprochen wird, dann meist in den höchsten Tönen. Zum 100-jährigen Bestehen des berühmten Kinderferienlagers legen sich nun alle noch mal besonders ins Zeug. Ein Film und eine Ausstellung zum Jubiläum heißen „Artek. 100 Jahre glückliche Kindheit“. Es ist nur einer von fünf Filmen, die aus diesem Anlass gedreht wurden. So kommt am 12. Juni „Artek. Durch die Jahrhunderte“ in die russischen Kinos, angekündigt als „wichtigste Premiere dieses Sommers“.

Aber es brauchte keine Jahrhundertfeier, damit Artek als „Land der Kindheit“, wenn nicht „Planet der Kindheit“ beschrieben wird. Und tatsächlich geraten die Teilnehmer regelmäßig ins Schwärmen, wenn sie auf ihren Aufenthalt angesprochen werden. So wie der 14-jährige Bogdan Chanin, den die MDZ im Sommer 2015 nach seiner Rückkehr aus Artek befragte. „Das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen“, sagte er.

Nach Auflösung der Sowjetunion wurde das ehemalige Pionierlager in Kinderzentrum umbenannt. Das Lenin-Denkmal auf dem Territorium, früher ein zentraler Veranstaltungsort, ist heute verwaist. In den 1990er Jahren muss eine kritische Auseinandersetzung mit der ideologischen Komponente des sowjetischen Erbes stattgefunden haben. Inzwischen ist das kein Thema mehr, zumindest nicht öffentlich. Gerühmt werden eher die großen Traditionen. Gewiss, die Sowjetpioniere sind Geschichte. Doch dafür sind in Artek russische Nachfolgeorganisationen aktiv: Den Aufsichtsrat der 2022 gegründeten „Bewegung der Ersten“ leitet Präsident Wladimir Putin persönlich, zum Vorsitzenden der Organisation ernannte er den Offizier Artur Orlow. Die „Junarmija“ mit ihren quasi-militärischen Uniformen steht unter Schirmherrschaft des Verteidigungsministeriums, als Gründer wird Ex-Verteidigungsminister Sergej Schojgu ausgewiesen.

Präsident Putin stattete Artek schon mehrere Besuche ab, zuletzt 2017. (Foto: Kremlin.ru)

Die schieren Dimensionen der Anlage vor den Toren von Jalta sind seit 2014 noch beeindruckender geworden. Russland hat das Camp mit viel Geld wieder zu dem Aushängeschild ausgebaut, das es zu sowjetischer Zeit war. Laut Tass ist es „eines der wirksamsten staatlichen Projekte bei der Entwicklung der Krim“. Bei den „geistig-moralischen Grundwerten“ beruft sich Direktor Konstantin Fedorenko in einem Interview auf „Familie, Heimat, gute Taten, Ehrlichkeit und natürlich, traditionell für Artek, Freundschaft“. An anderer Stelle nennt er auch den „Geist des Patriotismus“, die „Achtung vor der Geschichte unseres Landes“ und vor den „Heldentaten derer, die für unsere Zukunft gekämpft haben und kämpfen“.

In Artek verfassen die Kinder nicht nur Briefe an Teilnehmer der „militärischen Sonderoperation“, es werden auch regelmäßig Treffen mit solchen Soldaten veranstaltet. Zu einem Foto mit den maskierten Männern auf dem Artek-Gelände schreibt Direktor Fedorenko Anfang April auf Telegram: „Die Herzen der Kinder unseres ganzen Landes schlagen im Rhythmus eures Mutes und eurer Tapferkeit. Wir glauben an euch, sind stolz auf euch und warten jeden Tag auf eure siegreiche Heimkehr.“

Sanktionen, aber auch Kinder aus dem Westen

Kann jemand etwas gegen ein Kinderferienlager haben? Allerdings. Beginnend mit Großbritannien und den USA im Sommer 2023, haben mittlerweile 31 Länder Sanktionen gegen Artek verhängt. Als sich Ende Februar auch Kanada den Strafmaßnahmen gegen das Jugendcamp anschloss, bezeichnete der ebenfalls mit Sanktionen belegte Direktor Konstantin Fedorenko das als „eine Art Gütesiegel“ und Indiz dafür, wie „bedeutsam und erfolgreich“ sein Zentrum doch sei. Begründet werden die Sanktionen damit, dass Artek an der Umsiedlung und Umerziehung ukrainischer Kinder beteiligt gewesen sei.

Im vorigen Jahr sorgte in mehreren europäischen Ländern für Schlagzeilen, dass auch Kinder von dort durchaus freiwillig auf die Krim reisten. Bei T-Online las sich das so: „Für Propaganda holt Russland auch Minderjährige aus dem westlichen Ausland auf die annektierte und international isolierte Krim – und Eltern in Deutschland spielen offenbar mit.“ Der „internationale Durchgang“ gehört in Artek allerdings zum alljährlichen Standardprogramm, weil sich das Zentrum schon dem Namen nach als international versteht und als „Hauptstadt der Kinderdiplomatie“ wahrgenommen werden möchte, verpflichtet dem „Dialog der Kulturen“. Im Grunde möchte sich Russland so vor allem Freunde im Ausland machen. Dahinter steht die Idee, dass Kinder aus dem Westen, die einmal in Artek waren, dem Land für immer verbunden bleiben.

Artek produzierte in seiner Geschichte nicht selten denkwürdige Bilder. 1983 weilte die damals elfjährige Amerikanerin Samantha Smith in dem Camp, nachdem sie sich einen Briefwechsel mit Staatschef Juri Andropow geliefert und ihn gefragt hatte, warum die Sowjetunion die ganze Welt oder zumindest die USA erobern wolle. (Foto: RIA Novosti/Wikipedia Commons)

Das Kalkül dürfte in den meisten Fälle auch aufgehen, zumal ein Großteil der westeuropäischen Gäste aus russischsprachigen Elternhäusern zu stammen scheint, die Russland ohnehin gewogen sind. Sonst würden sie wohl kaum ihren Kindern, nachdem diese sich über Wettbewerbe für den Aufenthalt qualifiziert haben, die gern auch mal mehrtätige Anreise zumuten und dabei diverse Warnungen ignorieren. So rät beispielsweise das Auswärtige Amt in Berlin von Reisen nach Russland „dringend“ ab.

Wenn Ausländer sich letztlich begeistert über ihre Zeit in Artek äußern, ist das deshalb umso willkommener. Im russischen sozialen Netzwerk VK tauchte im Sommer 2024 ein Video auf, in dem sich „Kinder aus Deutschland“ überschwänglich bedanken. Ein Mädchen sagt in die Kamera, man habe „Teil der Friedenspolitik und Verständigung“ werden können, „die Kinder aus verschiedenen Ländern und Kulturen vereint“. Davon werde „in Deutschlands Schulen zu hören sein“. Ob ihr diese Worte jemand in den Mund gelegt hat, weiß man natürlich nicht. Jedenfalls liegen sie voll auf der Linie von Artek, wo man hofft, dass die Kinder idealerweise zu Hause die Botschaft von der russischen „Friedenspolitik“ weitertragen.

Das Ferienlager, dem 2009 wegen ausbleibender staatlicher – damals ukrainischer – Finanzierung sogar die Schließung drohte, wurde im März 2015 vom Ministerrat der Krim in russisches staatliches Eigentum überführt und untersteht seitdem dem Bildungs- und Wissenschaftsministerium in Moskau. Das Außenministerium in Kiew rief aus diesem Anlass seinerzeit die Unesco und die Weltgemeinschaft auf, diesen Schritt zu verurteilen. Er stelle einen Affront gegen die „gesamte zivilisierte Welt“ dar und bedeute, dass die Ukraine „weiter ausgeraubt“ würde.

Tino Künzel

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