Jenseits von Hollywood. Und vom Kaufhaus-Multiplex.

Es gibt gute Gründe, mal wieder ins Kino zu gehen. Der Spielplan gehört nicht gerade dazu. Denn der Vielfalt sind enge Grenzen gesetzt. Dafür schreiben Russlands Filmtheater ihr eigenes Drama. Deshalb soll einigen besonderen Exemplaren der Moskauer Kinolandschaft unsere volle Aufmerksamkeit gehören.

Im Saal 2 des „Oktober“-Kinos laufen Filme im sogenannten Kosmax-Format. (Foto: Tino Künzel)

Das Licht geht aus und die Magie an. Kino lässt Alltagssorgen verschwinden, fesselt und reißt mit. Zumindest gutes Kino. Nicht der falsche Film, in den die russische Kinoindustrie geraten ist. Deren Lage ist schon bei Licht betrachtet ein Drama, seit Hollywood im vergangenen Frühjahr den Verleih in Russland eingestellt hat. Oder ist alles halb so wild?

Wladimir Tolstoi, der Kulturberater des russischen Präsidenten (und Ururenkel von Lew Tolstoi), hat in den letzten Wochen mehrfach ein erstaunlich freundliches Bild der Entwicklung gezeichnet. Ende März sagte er, die Krise sei überwunden und die Einnahmen an den Kinokassen im ersten Quartal sogar höher gewesen als im selben Zeitraum 2019, vor der Pandemie. Deshalb, ergänzte er Ende April, seien keine staatlichen Hilfsmaßnahmen vonnöten.

Nun haben mit „Tscheburaschka“ um eine sowjetische Trickfilmfigur und mit „Wysow“ um die Rettung eines verletzten Kosmonauten tatsächlich in kurzer Zeit zwei russische Filme die Kassen klingeln lassen. „Tscheburaschka“ hat mit einem Einspielergebnis von sieben Milliarden Rubel (gut 80 Millionen Euro) alle Rekorde gebrochen. „Wysow“ kam in den ersten zwei Wochen immerhin auf eine Milliarde.

2022 war „katastrophal“

Aber soll das zu einem kardinalen Umschwung in einem Land geführt haben, in dem noch Anfang 2022 drei Viertel der Einnahmen von ausländischen Filmen generiert wurden? Die großen Moskauer Kinobetreiber meldeten jetzt für das Vorjahr Umsatzeinbrüche zwischen 40 und 50 Prozent gegenüber 2021. „Katastrophal“ sei das Jahr gewesen, sagte Alexej Wassjassin, der Chef der unter einem gemeinsamen Dach agierenden Kinoketten Formula Kino und Cinema Park. Die Zukunft sei nebulös. Bis 2024 oder 2025, wenn neue russische Produktionen die Lücke füllen sollen, die Hollywood hinterlassen hat, müsse man erst noch durchhalten.

Dieser Existenzkampf macht die Kinos andererseits sogar unabhängig von den dort gezeigten Filmen interessant. Um dem Schauspiel beizuwohnen, sollte man sich in Ermangelung einer großen Auswahl von Filmen aber zumindest bei den Kinos wählerisch sein. Es muss ja nicht das immergleiche Multiplex im Einkaufszentrum sein. Moskau hat in dieser Hinsicht genügend Eigenart zu bieten.

Oktober

Das „Oktober“-Kino. Die nächstgelegene Metrostation ist die Arbatskaja. (Foto: Tino Künzel)

Das „Oktober“ (Oktjabr) ist Moskaus Festival- und Premierenkino auf dem Neuen Arbat. Der größte der elf Säle hat über 1500 Plätze. Und wer früher auf Imax schwor, der wird nun mit Kosmax getröstet, dem „einheimischen Pendant“. Ansonsten ist das „Oktober“-Kino seit der Übernahme durch die Karo-Kette innen nicht unbedingt leicht von einem Kaufhaus-Multiplex zu unterscheiden. Es gibt noch nicht einmal eine ordentliche Kasse. Das Ticket muss am Terminal gelöst werden. Alleinstellungsmerkmal ist dagegen das riesige Relief zum Thema Roter Oktober an der Dachkonstruktion. Während eine Videowand heute den Großteil der Vorderfront verdeckt, ist zumindest das vom Bau aus dem Jahr 1967 zu sehen.

karofilm.ru

Poklonka

Das „Poklonka“-Kino im Siegespark. Die nächstgelegene Metrostation ist Park Pobedy. (Foto: Tino Künzel)

Einen gesonderten Besuch lohnt das 2018 eröffnete Kino im Untergeschoss des monumentalen Siegesmuseums wohl kaum. Doch das Museum selbst im Siegespark ist als Schaufenster des offiziellen Geschichtsbilds zu Krieg und Frieden auf alle Fälle sehenswert. Vermutlich wird man dabei in Gesellschaft von Schulklassen sein, die die wichtigste Zielgruppe des Museums zu sein scheinen. Auf seiner Homepage beschreibt es seine Mission so: „Heute ist das Museum eine der führenden Einrichtungen, um Versuchen der Geschichtsfälschung entgegenzutreten, und ein Zentrum der patriotischen Erziehung neuer Generationen.“

Im Kino läuft meist das, was auch anderswo läuft. Die drei Säle sind nach den russischen Feldherren Schukow, Rokossowski und Wassiljew benannt.

poklonka-cinema.ru

Kinomuseum

Das Kinomuseum. Die nächstgelegene Metrostation ist WDNCh. (Foto: Tino Künzel)

Die Idee für ein Kinomuseum in Moskau reicht bis in die 1920er Jahre zurück. Doch eröffnet wurde es erst 1989. Und 2017 war Umzug in den rekonstruierten Pavillon 36 auf dem Gelände des WDNCh, allerdings weit weg von jeglichem Rummel und mitten im Grünen. Die Sammlung des Museums umfasst nach eigenen Angaben rund 100.000 Exponate. Besucher können auch besichtigen, wie das Büro des berühmten Regisseurs Sergej Eisenstein ausgesehen hat. In den drei Kinosälen werden vor allem sowjetische Filme gezeigt. Es gibt aber auch andere thematische Veranstaltungen. Das Museum ist täglich bis auf mittwochs von 12 bis 21 Uhr geöffnet.

museikino.ru

Tula

Das Kino „Tula“. Die nächstgelegene Metrostation ist Petschatniki. (Foto: Tino Künzel)

Zu Sowjetzeiten hatte jeder Moskauer Stadtteil sein Kino. Gebaut in den 1930er bis 1980er Jahre, waren viele bereits in einem renovierungsbedürftigen Zustand, als die Sowjetunion selbst ihren Abspann erlebte. Erst recht waren sie nicht mehr konkurrenzfähig, als später moderne Kinos nach westlichem Standard auftauchten. Sie teilten das Schicksal freistehender Kinos in anderen Ländern, verfielen oder bekamen ganz neue Mieter. Doch dann hatte man bei der Stadt eine Idee: Seit 2017 werden 39 Kinos zu sogenannten Nachbarschaftszentren umgebaut. Von ihnen selbst bleibt dabei zwar in den meisten Fällen äußerlich nicht viel übrig, aber immerhin entspricht die neue Nutzung dem einstigen Grundgedanken, einen gesellschaftlichen und kulturellen Treffpunkt im Viertel zu schaffen.

Zwölf weitere Sowjetkinos wurden in ihrem alten Gewand aufgemöbelt. Das ist in Zeiten der Multiplex-Gleichmacherei schon ein Ereignis. Die Kinos tragen Namen wie „Fackel“, „Sputnik“ oder „Junost“ im Geiste der damaligen Zeit. Ihre Besonderheiten und ihr Gesicht konnten sie wahren. Das gilt auch für das Kino „Tula“. Der 1988 gebaute Würfel mit seinen drei Sälen und einem Café ist offenkundig gut in Schuss und wird von den Bewohnern des Außenbezirks Petschatniki angenommen. Er beherbergt auch Cinemathek des Kinobetreibers Moskino, der dem Kulturamt der Stadt untersteht. Mit 5000 Filmen und 9000 Kopien handelt es sich um Russlands zweitgrößtes Filmarchiv.

Auf dem Spielplan des Kinos stehen derzeit wie anderswo auch vor allem das russische Weltraum-Drama „Wysow“ und der US-Streifen „Beau Is Afraid“ mit Joaquin Phoenix. Anders als im glamourösen Stadtzentrum, ist das Kino von sowjetischen Plattenbauten und einer kleinen Grünanlage mit Spielplätzen umgeben. Nur einen Steinwurf entfernt ist der beliebte Park Petschatniki am Ufer der Moskwa. So wird der Kinobesuch zu einem Erlebnistrip in ein Moskau jenseits der Reiseführer.

mos-kino.ru

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: