Russland? „Ein ganz normales Land“

Am Anfang wollte er sich einfach nur sein eigenes Bild machen. Also entschied sich Jan Mathis Eckert aus Erkelenz im Rheinland, sein elftes Schuljahr in Russland zu verbringen. Seitdem lässt ihn das Land nicht mehr los.

Mit der Schiff unterwegs zur Insel Walaam im Ladogasee: Mathis mit seinen Gasteltern aus Tscheboksary im Jahr 2016. © Privat

Jan Mathis Eckert ist 21 Jahre alt und studiert im zweiten Semester Medizin in Würzburg. Von seinen Kommilitonen unterscheidet ihn, dass er noch etwas anderes studiert: Russland. Mathis war schon in Moskau, St. Petersburg und Kasan, aber auch in weniger touristischen Städten wie Astrachan, Wolgograd oder Surgut. Jedes Jahr kehrt er in das Land zurück, in dem er noch als Schüler ein Austauschjahr absolvierte.

Das Netzwerk der Austauschorganisation AFS erstreckt sich auf über 60 Länder. Viele junge Leute nutzen die Chance, um ein Jahr in den USA oder in Kanada zu verbringen. Doch Mathis, damals 16, sagte sich: Und was ist mit Russland? Da geht keiner hin. Viele Freunde waren skeptisch, aber der Waldorfschüler wollte ohnehin etwas Neues ausprobieren. Gesagt, getan. Im August 2013 kam er in Tscheboksary an der Wolga an und aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Mit den Stereotypen im Kopf, die man aus Deutschland mitbringt, hatte ich mir das alles anders vorgestellt“, schmunzelt Mathis. Nicht erwartet hat er zum Beispiel die riesigen Shoppingcenter. „Und ich war begeistert, mit wie viel Liebe die Russen ihre Wohnungen in diesen hässlichen Plattenbauten ausstatten.“

Den ersten Schultag in Tscheboksary wird Mathis nie vergessen: Er musste sich vor der gesamten Schule auf Russisch vorstellen. Die Mitschüler löcherten ihn mit Fragen, aber seine Russischkenntnisse reichten bei Weitem nicht aus, um problemlos zu kommunizieren. Deutsche Autos und der Zweite Weltkrieg – das waren Themen, über die junge Russen mit ihm reden wollten. „Sie haben sich dafür interessiert, was wir über den Krieg in der Schule lernen und ob wir dieses Gedenken haben.“ Auf www.mathis-in-russland.de, einem Blog, in dem er von seinen Erlebnissen in Russland erzählte, notierte Mathis damals: „Im Russischen haben alle Wortarten eine unterschiedliche Endung und ausgerechnet die Partizipien und auch die Verben im Passiv haben die Endung eines Adjektivs. Alles verwirrend, aber ich bin optimistisch, dass ich das irgendwann auch noch lerne.“ Am Ende besteht er sogar die Russisch­prüfung für das russische  Abitur – mit Bestnote.

Als Mathis Eckert wieder nach Hause kam, konnten viele noch immer nicht verstehen, warum er ausgerechnet nach Russland wollte. Kein Wunder, meint Mathis. „Wenn man die Berichterstattung in den deutschen Medien verfolgt, hat man den Eindruck, dass Russland ein Reich des Bösen ist. Aber es ist ein ganz normales Land.“

Was ihn an Russland besonders fasziniert hat? Der gesellschaftliche und zwischenmenschliche Zusammenhalt, sagt Mathis. Das Verhältnis der Lehrer zu den Schülern sei ein elterliches, sogar der Frontalunterricht hat ihn nicht gestört. Und dann natürlich die russische Banja! Obwohl, danach in den Schnee zu springen, fand Mathis anfangs ziemlich befremdlich.

Befremdlich war auch die russische Art, großzügig mit Regeln umzugehen. Aber mit 16 Jahren ist man genau in dem Alter, wo man selbst gern gegen die Regeln verstößt, deswegen passte das. Nach seinem russischen Jahr dachte Mathis sogar, die Deutschen würden alles viel zu eng sehen. Dafür genoss er nach seiner Rückkehr, dass die Menschen in Deutschland viel und freundlich lächeln. Auch das russische Frühstück vermisste er nicht. „Diesen Brei, den alle russischen Kinder essen müssen, konnte ich nicht ausstehen.“ Aber Pelmeni, Borschtsch und Blinys – die waren schon lecker.

Mathis während seines Austauschjahrs mit Mitschülern in Tscheboksary. © Privat

Fünf Jahre ist das nun her, aber Russland lässt Mathis nicht los. 2015 hat er sogar Urlaub mit seiner Gastfamilie in Sotschi gemacht. „Das hat mich wirklich umgehauen. Russland und Subtropen, das passt irgendwie überhaupt nicht zusammen“, lacht der Student. In Tscheboksary hatte er Fröste bis zu minus 35 Grad erlebt und fragt sich im Nachhinein, wie er diese Kälte überhaupt ausgehalten hat, wo er doch jetzt in Deutschland schon bei plus fünf Grad friert. Seine russische Lieblingsstadt? Kasan findet Mathis faszinierend. Eine moderne Stadt, in der verschiedene Kulturen, Muslime und Christen, Russen und Tataren friedlich miteinander leben. St. Petersburg ist dafür sehr europäisch geprägt. Auch Moskau genießt er jedes Mal, aber nicht länger als fünf Tage. Dafür ist die russische Hauptstadt viel zu hektisch und die Bevölkerung zu reserviert.

Nächstes Jahr möchte er seine Gasteltern Alexander und Swetlana nach Deutschland einladen, und dann sollen auch seine Eltern mit ihm zusammen endlich nach Russland reisen. Selbst beruflich sucht Mathis Verbindungen nach Russland. Sein Pflegepraktikum hat er in einem Krankenhaus in Tsche­boksary absolviert. Das war eine sehr interessante Erfahrung für den angehenden Mediziner: „Ich durfte in der Klinik viel mehr machen als in Deutschland, unter anderem bei Operationen assistieren.“

Mit 19 Jahren ging Mathis wieder ins Ausland, diesmal zum Freiwilligendienst nach Bolivien. Ein spannendes Land, in dem ebenfalls viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Aber diese innere Verbundenheit hat er nur mit Russland. Ob das daran liegt, dass er das Land als Jugendlicher erlebte und es ihn deshalb so geprägt hat? Mag sein. „Ich habe mich jedenfalls von Anfang an dort wohl gefühlt.“

Daria Boll-Palievskaya

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