Im Alleingang gegen die Geisterspiele: Die Premier Liga ist zurück!

Zählen auch Sie schon die Tage, bis die russische Premier Liga am 19. Juni den Spielbetrieb wieder aufnimmt? Kleiner Scherz. Wenn der Ausländer für Russland schwärmt, dann eher selten wegen der Fußballmeisterschaft. Doch die hat durchaus Spannendes zu bieten, sowohl auf als auch neben dem Platz. Die Aufregerthemen des Saison-Endspurts – in unserer Vorschau.

In Russland rollt ab 19. Juni wieder der Ball, wenn auch nur in der höchsten Spielklasse. (Foto: Tino Künzel)

Es ist eine etwas einseitige Fußballbeziehung, die Deutsche und Russen miteinander verbindet. In Russland trifft der Deutsche noch in der tiefsten Provinz Leute, die mehr über die Bundesliga wissen als er selbst, und nicht etwa nur über „Bavaria“, sondern auch „Männchengladbach“ und andere Vereine, die einiges an gutem Willen erfordern, um sie überhaupt über die Lippen zu bringen. Russische Reporter erklären gerade in diesen Tagen wieder, warum ihr Herz schon seit vielen Jahren für Werder Bremen schlägt. Wer etwas über die Faszination des FC St. Pauli erfahren will, wird auf hiesigen Sportseiten ohne Weiteres fündig.

Seit die Bundesliga Mitte Mai aus der Corona-Versenkung ins Rampenlicht zurückkehrte, war sie im Spartensender Match TV eines der bestimmenden Themen. Live-Spiele, Analysen, Experteninterviews, Talkshows – im russischen Free-TV bekam der deutsche Fußball mehr Sendezeit als in Deutschland. Dabei war der Ton wie üblich freundlich bis überschwänglich. Und im Pay-TV wurde selbst auf das Keller-Duell Augsburg gegen Köln noch so viel Vorfreude geschürt, als handele es sich um ein Highlight der Sonntagabend-Unterhaltung.

Umgekehrt ist Fußball-Russland selbst für Fans und Experten in Deutschland eine Terra incognita. Wenn die Russische Premier Liga (RPL) am 19. Juni nach dreimonatiger Zwangspause fortgesetzt wird, um bis 22. Juli die ausstehenden acht Spieltage der Saison zu absolvieren, dann ist ihr in der Außenwahrnehmung höchstens ein Platz an der Peripherie gewiss. Ein Grund mehr, den Blick auf Geschichten und Personalien rund um den Re-Start zu lenken – und so die Fußballbeziehung ein wenig ausgeglichener zu gestalten.

Russischer Sonderweg bei Zuschauern

Bei ihrem Sicherheitskonzept für den Umgang mit Ansteckungsgefahren nimmt sich die RPL ein Beispiel an der Bundesliga – mit einer Ausnahme: Gespielt wird nicht vor leeren Tribünen. Bis zu zehn Prozent der Plätze in den Stadien dürfen belegt werden. Zuschauer hatten zuvor bereits Ungarn und Serbien zugelassen, doch Russland ist ein anderes Kaliber, die Nummer sieben in der UEFA-Länderwertung. Dass in den sechs Top-Ligen nur Geisterspiele stattfinden, verleiht dem russischen Experiment besonderes Gewicht.

Die Entscheidung wurde von den Klubs begrüßt, stieß in der Öffentlichkeit aber längst nicht nur auf Gegenliebe. Für Kritiker kommt sie viel zu früh und setzt das falsche Signal. Zuletzt hatte sich zwar die Zahl der Neuinfektionen in Russland stabilisiert, aber auf hohem Niveau von immer noch um die 8000 pro Tag. Der russische Fußballverband verteidigt den Sonderweg dennoch als gerechtfertigt. Man müsse nach vorn schauen und Erfahrungen sammeln, auch im Hinblick auf die neue Saison.

Aber was bedeutet die Zehn-Prozent-Klausel überhaupt? Die maximale Zuschauerzahl reicht damit von 6800 bei Tabellenführer Zenit St. Petersburg und seiner Gazprom Arena bis zu 750 bei Aufsteiger FC  Orenburg, der im kleinen Gasowik-Stadion spielt. Wie die Plätze verteilt werden, ist den Klubs überlassen. In erster Linie sollen Dauerkarteninhaber zum Zuge kommen. Davon hat allein Zenit allerdings 20.000, so dass wohl ein Losverfahren hermuss. Auswärtsfans sind nicht gestattet.

In normalen Zeiten ist bei Zenit St. Petersburg die Bude voll. (Foto: Tino Künzel)

Weitgehend leer sein werden die Stadien natürlich trotzdem. Solche Fernsehbilder ist man in Russland aber auch unter regulären Bedingungen gewohnt. Nur neun der 16 RPL-Klubs lasten ihre Stadien zu über 50 Prozent aus. Beim FK Sotschi, der im WM-Stadion Fisht zu Hause ist, sind es bei einem Zuschauerschnitt von 10.784 gerade einmal 23 Prozent. Am vollsten ist das Stadion des FC Krasnodar, von dessen 35.000 Plätzen im Mittel 28.081 besetzt sind (80 Prozent). Zuschauerkrösus in absoluten Zahlen ist Zenit mit einem Schnitt von 47.700 Besuchern.

Merke: Waren bisher viele russische Stadien halbleer, sind sie künftig halbvoll – zumindest im internationalen Vergleich.

RB Ufa? Graue Maus will hoch hinaus

Für den größten Paukenschlag sorgte in der fußballfreien Zeit ausgerechnet der Provinzklub Ufa, wo sonst gefühlt nie etwas Interessantes passiert. Der derzeitige Tabellenneunte bestätigte Medien­berichte, nach denen er in Verhandlungen mit namhaften ausländischen Investoren steht, nämlich mit Red Bull aus Österreich und der City Football Group aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Beide kon­trollieren jeweils ein Netzwerk von Fußballklubs mit RB Leipzig auf der einen Seite und Manchester City auf der anderen an der Spitze. Wie passt nun aber Ufa in solch ein Portfolio? Geschäftsführer Schamil Gasisow sagte in Interviews, sein Klub sei jung und formbar.

Das kann man wohl sagen. Der FC Ufa wurde erst 2009 gegründet, seit 2014 spielt er im Oberhaus – meist gegen den Abstieg. Im vorigen Jahr wechselte man die Klubfarbe: Aus Rot wurde Lila. Ein Aufschrei blieb aus. Das Fanlager ist überschaubar, das heimische Neftjanik-Stadion mit seinen 15.000 Plätzen im Schnitt nur ungefähr zur Hälfte gefüllt – obwohl Ufa, rund 1200 Kilometer östlich von Moskau gelegen, eine Millionenstadt ist.

Ufa will auffallen. Auch die neue lila Klubfarbe dient diesem Ziel. (Foto: FK Ufa)

Bisher hat der Klub vor allem als Sprungbrett für Profis und Trainer von sich reden gemacht. 2016 wechselte Defensivspieler Alexander Sintschenko für fünf Millionen Euro von hier zu Manchester United. In den vergangenen Jahren wurde die Mannschaft unter anderem von Viktor Gontscharenko und Sergej Semak trainiert, die anschließend zu den Top-Klubs ZSKA Moskau und Zenit St. Petersburg weiterzogen. Mit Transfers hat Ufa zumindest einen Teil seines Budgets selbst verdient, um nicht am Tropf von Staatsgeldern zu hängen wie so viele andere regionale Klubs, die zu einem großen Teil aus den Regionalhaushalten finanziert werden.

Ob aus dem Einstieg millionenschwerer Investoren etwas wird, ist noch nicht raus. Eine Übernahme kommt dem Vernehmen nach nicht in Frage, dagegen sperrt sich die Politik. Man bietet im Gegenzug stattdessen Vorzugsbedingungen bei wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region Baschkortostan, deren Hauptstadt Ufa ist.

Merke: Ein unbeschriebenes Blatt zu sein, kann sich manchmal auch als Karrierechance entpuppen.

Dienstschluss für deutsche Legionäre

Das deutsche Kontingent in der Premier Liga hat sich im Frühjahr halbiert. Für zwei Weltmeister von 2014 ist ihr Russland-Gastspiel vorzeitig beendet. Der Ex-Schalker Benedikt Höwedes einigte sich mit seinem Klub Lokomotive Moskau auf eine Auflösung des noch bis 2021 laufenden Vertrages, wofür private Gründe angeführt wurden: Er wolle näher an seiner Familie sein.

Für Lok bestritt der 32-jährige Abwehrspieler seit Sommer 2018 genau 50  Spiele in Meisterschaft, Pokal und Champions League, schoss drei Tore und wurde mit der Mannschaft Pokalsieger. In den letzten neun Liga-Spielen fehlte er keine einzige Minute. Mitte März hatte „Euer Benni“ in seiner T-Online-Kolumne den damaligen russischen Umgang mit der Virusgefahr als „Wahnsinn“ bezeichnet. Die anschließende Pause verbrachte er in Deutschland – und kommt nun auch nicht wieder.

Spartak Moskau verzichtet derweil in der Schlussphase der Saison auf die Dienste von André Schürrle. Der 29-jährige Stürmer war für ein Jahr von Borussia Dortmund ausgeliehen, kam aber wettbewerbsübergreifend nur auf 18 Einsätze, zwei Tore und vier Torvorlagen. Deshalb zog Spartak auch die Kauf­option nicht. Schürrle hatte zunächst zwar voll eingeschlagen, danach aber auch verletzungs- und krankheitsbedingt stark abgebaut.

Damit verdienen in Russlands Eliteklasse von den deutschen Legio­nären nun nur noch Maximilian Philipp (Dynamo Moskau) und Robert Bauer (Arsenal Tula) ihr Brot.

Merke: Nicht jeder Weltmeister meistert auch Russland.

Dicke Luft beim Tabellenzweiten

So richtig Wellen schlug in den Corona-Wochen allerdings nur eine Personalie: die von Lok-Erfolgstrainer Jurij Sjomin. Der wurde von seinem Klub vor die Tür gesetzt, weil sein Vertrag am 31. Mai auslief. Das wäre unter normalen Umständen nach Saisonende gewesen. Jetzt darf der 73-Jährige nicht einmal mehr sein Werk vollenden – obwohl die Mannschaft auf Platz zwei steht. Eine Vertragsverlängerung über die Saison hinaus war ohnehin nicht geplant. Selbst die Trennung erfolgte betont nüchtern.

Dabei ist Sjomin eine lebende Klub-Legende. Mit einigen Unterbrechungen seit 1986 im Verein, holte Lok mit ihm als Trainer zwölf seiner 14 Titel, darunter alle drei Meisterschaften 2002, 2004 und 2018. Er machte die „Eisenbahner“ überhaupt erst zu dem, was sie heute sind, genießt bei den Fans Kult-Status, gilt aber auch als Sturkopf, der alles selbst entscheiden wollte und sich mit keinem Präsidenten und Sportdirektor vertrug. Jetzt hat er einen langen Machtkampf verloren. Als Nachfolger holte Lok den Serben Marko Nicolic, der 2017 mit Partizan Belgrad (Serbien) und 2018 mit Ferhervar FC (Ungarn) Meister war.

Merke: Die wichtigsten Zweikämpfe werden bisweilen hinter den Kulissen ausgetragen.

Entscheidend ist nicht nur auf dem Platz

Die Abstiegszone beginnt in der Premier Liga ungefähr bei Platz sechs. Nach jetzigem Stand müssten Krylja Sowetow Samara und Achmat Grosnyj den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. Doch ob überhaupt jemand absteigen muss, steht in den Sternen. Die Saison in der Zweiten Liga wurde für beendet erklärt und die Aufstiegsrelegation abgesagt. Direkte Aufsteiger wären Rotor Wolgograd, das nach 16 Jahren wieder erstklassig werden könnte, und der FC Chimki. Dass die Klubs das Lizensierungsverfahren überstehen, ist mangels Großsponsoren aber fraglich.

In der jüngeren Vergangenheit verschwanden einige Mitbewerber aus Geldmangel sogar ganz von der Bildfläche. Der langjährige Erstligist Amkar Perm wurde 2018 aufgelöst, genauso wie der FC Tosno – kurz nachdem er den russischen Pokal gewonnen hatte.

Anschi Machatschkala spielte 2013 noch in der Europa League gegen Liverpool, nachdem der Klub aus Dagestan mit dem dagestanischen Milliardär Suleiman Kerimow einen neuen Geldgeber gefunden hatte und plötzlich mit Millionenangeboten auf dem internationalen Transfermarkt mitmischte. Doch nach zweieinhalb Jahren verlor der Gönner die Lust und Anschi fiel seitdem noch tiefer, als es zuvor nach oben gestiegen war. Inzwischen bis auf den vorletzten Platz in der Südstaffel der dritten Liga durchgereicht, ist die Mannschaft, die 2013 Dritter in der Premier Liga war, sogar in der eigenen Stadt nur noch die Nummer drei hinter Legion Dynamo und dem neu gegründeten FK Machatschkala.

Merke: Fußball muss man sich auch leisten können (und wollen).

Jugendmannschaft vertritt Profis

Beim Tabellenvierten Rostow wurden zwei Tage vor Wiederaufnahme der Meisterschaft gleich sechs Stammspieler positiv auf das Coronavirus getestet. Einer der Profis hatte sich offenbar auf Besuch bei seinen Eltern angesteckt. Entsprechend den geltenden Bestimmungen musste sich daraufhin die gesamte Mannschaft einschließlich Trainerstab in eine zweiwöchige Quarantäne begeben. Rostow könnte so bis zu drei Spieltage verpassen und jeweils eine 0:3-Niederlage kassieren, es sei denn, man einigt sich mit den jeweiligen Gegnern auf eine Spielverlegung.

Beim ersten Spiel ist das schon mal gescheitert. Der im Abstiegskampf stehende FK Sotschi, bei dem Rostow am 19. Juni antreten muss, blieb von der Zwangslage des Kontrahenten ungerührt und deutete leise an, sie sei ja schließlich selbst verschuldet. Jedenfalls halte man an dem Spieltermin fest. Diese Position brachte Sotschi zwar bitterböse Reaktionen selbst von neutralen Beobachtern ein und Rostows Trainer Walerij Karpin spottete, damit sei Russlands südlichster Klub erster Anwärter auf den jährlichen Fairplay-Preis, doch rechtlich ist das Vorgehen nicht zu beanstanden.

Für Rostow wird die Situation dadurch erschwert, dass das Profiteam ein Trainingsspiel gegen die Nachwuchsmannschaft bestritten hat, die deshalb ebenfalls als potenziell infiziert gilt und nicht einspringen kann. Deshalb schickte der Klub in seiner Not eine Jugendmannschaft nach Sotschi, deren ältester Spieler 19 Jahre alt ist und der jüngste 16 Jahre. Das Spiel findet also statt, aber mit krass ungleicher Rollenverteilung, die an Wettbewerbsverzerrung grenzt. Nicht zuletzt die Konkurrenten von Sotschi im Kampf um den Klassenerhalt dürften kaum begeistert sein.

Merke: Manchmal sind Punkte wichtiger als der gute Ruf.

Tino Künzel

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