Hausaufgabe nach 34 Jahren

War eine militärische Grundausbildung in sowjetischen Schulen sinnvoll? Was ist besonders in Erinnerung geblieben? Der Chefredakteur MDZ hat eine gedankliche Reise in die Vergangenheit gemacht, zurück in seine Schule.

Das Plakat zum Schutz der Atemwege vor radioaktivem Staub (Foto: pixels.com)


„Schlecht, Beresin, Sie haben die Aufgabe nicht erfüllt. Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht interessiert.“ Ja, ich habe es nicht gepackt. Und ich habe mich auch nicht angestrengt, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin nicht der Typ, dem die Aufgabe, einen Vortrag zum Thema „Die Taktik des Brussilowschen Durchbruches“ zu halten, gefallen könnte. Wie kommt diese Aufgabe überhaupt in den Unterricht für militärische Grundausbildung? Ich bestreite ja nicht, dass einer der bekanntesten Feldherren des Ersten Weltkrieges eines Vortrags würdig ist. Genauso wie sein berühmter Durchbruch im Jahre 1916. In dieser blutigen Schlacht fielen 478 000 russische Soldaten und Offiziere, Österreich-Ungarn und Deutschland verloren zusammen anderthalb Millionen Gefallene, Verwundete, Vermisste und Gefangene. Schade, dass es 1988, als ich die Hausaufgabe im Fach militärische Grundausbildung (MGA) machen musste, noch kein Wikipedia gab, wo ich all diese Fakten hätte herausziehen können.

Gibt es jemanden auf dieser Welt, der bereit wäre zu sagen, dass MGA sein Lieblingsfach war? Nicht Geschichte, Physik oder letztendlich auch Sport, sondern MGA? Als man uns in der Grundschule die Räume zeigte, waren alle von den Puppen, die im Unterrichtsraum für MGA standen und die chemische Schutzanzüge und Gasmasken trugen, beeindruckt. In der 9. und 10. Klasse, als wir dann schon selbst MGA hatten, war die Begeisterung für Gasmasken bereits verflogen. 1988 war auch das Thema der Feinde, die von der Zerstörung der UdSSR träumten, passé. Wir standen plötzlich ohne Feinde da. Die Plakate im Unterrichtsraum, die zeigten, wie man den richtigen Unterstand bei einem Atomschlag wählt, waren nicht mehr aktuell – die atomare Bedrohung war in weite Ferne gerückt (schmerzlich, diesen Satz heute zu schreiben, im Dezember 2022).

Der alte Lehrer ließ uns in einer Reihe antreten und überprüfte unser äußeres Erscheinungsbild. „Die Haare müssen geschnitten werden“, „alle Knöpfe zuknöpfen“, „der Pullover entspricht nicht der Dienstordnung.“ Man führte uns einmal in einen Truppenteil, wo wir einen Film über Giftgas anschauen mussten. Ein andermal brachte man uns auf einen Schießplatz, wir fuhren mit dem Vorortzug irgendwohin ins Moskauer Gebiet. Es war schwierig, das alles ernst zu nehmen, wenn du über Kopfhörer den Hit „Ich habe nie eine beängstigendere Menge gesehen, als die in Khakifarben …“ der zu dieser Zeit unheimlich beliebten Gruppe „Nautilus Pompilius“ hörst. Bereit, in diese in Tarnfarben gekleidete Menge eintauchen zu wollen, waren in meiner Klasse eher die Wenigsten.

Für Brussilow bin ich dem Unterricht in MGA dankbar. Nach 34 Jahren kehrte ich zu der Schulaufgabe zurück.Worin die Brillanz der Taktik besteht, die der russische General im Kampf um die Bukowina, Galizien und Wolhynien anwendete, kann ich bis heute nicht einschätzen. Dafür schätze ich den Befehl Brussilows, den er der 12. Kavalleriedivision gab: „Sterben. Aber nicht gleich, sondern bis zum Abend.“ In diesem Satz spiegelt sich das Wesen des Krieges wider. Aber kann man sich darauf wirklich vorbereiten?

Igor Beresin

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