Am 31. August explodierten sowohl russische als auch ausländische Medien. Nicht-mediale Personen äußerten sich zum Thema in sozialen Netzwerken. Am Vorabend war Michail Gorbatschow gestorben, eine Person, zu der man immer etwas zu sagen hat. Offizielle Informationen zum Tode des ersten und gleichzeitig letzten Präsidenten der UdSSR sind bis dahin spärlich.
Seit Anfang 2020 befand sich Gorbatschow im Klinischen Zentralkrankenhaus in Moskau, wo er ständig von den Ärzten überwacht und behandelt wurde. Verschiedene russische Medien berichten, der Ex-Staatschef solle auf dem Nowodewitschi-Friedhof beigesetzt werden. So wie er es selbst wollte, neben seiner Ehegattin Raissa. Ob es ein Staatsbegräbnis wird, ist noch unklar. Kremlsprecher Dmitri Peskow zufolge hänge alles von den Hinterbliebenen des Verstorbenen ab. Über die Teilnahme des heutigen russischen Präsidenten an der Beerdigung müsse ebenfalls die Familie Gorbatschow entscheiden.
Entweder positiv oder überhaupt nichts
Mittlerweile sprachen viele russische Staatsbeamte den Angehörigen ihr Beileid aus. Der russische Staatschef, dessen Stellungnahmen zum Zerfall der Sowjetunion allen bekannt sind, fand passende Worte zu dem Beitrag des Ex-Generalsekretärs der Kommunistischen Partei und späteren Präsidenten der Sowjetunion. Michail Gorbatschow habe das Land während einer Periode der dramatischen Veränderungen und großer außenpolitischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen geleitet, so Wladimir Putin.
Kein Wort über Gorbatschows „Schuld am Zerfall der Sowjetunion“, ein Gedanke, der in Russland tief verankert ist. So zum Beispiel äußerte sich der Leiter der Kommunisten Gennadi Sjuganow: „Gorbatschow war einer der Staatschefs, die ihrem Volk Leid, Unglück und Not brachten.“ So etwas steht im Widerspruch zur russischen Tradition, über einen Verstorbenen entweder positiv oder überhaupt nicht zu sprechen. Gorbatschow, eine besondere Figur in der russischen Geschichte, stellt jedoch sogar in diesem Punkt eine Ausnahme dar.
Allerdings sind andere Politiker viel zurückhaltender als Sjuganow oder bewerten Gorbatschows Beitrag eher positiv. Der Vizevorsitzende des Föderationsrates betont, dass Gorbatschow ein System zerbrach, das von Anfang an verkehrt war. Er habe den Weg gezeigt, den die Russen ohne ihn im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten nicht hätten gehen können. Die Ex-Vizevorsitzende der „Union der Rechten Kräfte“ (klingt irritierend, die Partei gehörte zu den demokratischen politischen Vereinigungen) Irina Chakamada nennt Gorbatschow den „ersten Reformer in der modernen Geschichte Russlands“. Es sei eine unerträglich schwere Arbeit gewesen, so Chakamada weiter. „In jedem Fall vielen Dank für den Versuch.“
Kritik von allen Seiten
Diesen Versuch wissen nicht alle Russen zu schätzen, aus verständlichen Gründen. Mit beziehungsweise nach Gorbatschows Perestroika kamen sehr schwierige Jahre. Die von vielen verhassten 90er brachten Verzweiflung und Not für diejenigen mit sich, die zu Sowjetzeiten mit ihren Gehältern gut auskommen konnten. Das betraf auch die Rentner sehr stark. Ihr gesichertes Leben wurde erschüttert. Im Prinzip leben auch heute zahlreiche Rentner in Russland unter prekären Bedingungen. Sie kämpfen buchstäblich ums Überleben. Von einer massenhaften Empörung kann heute keine Rede sein, aber Ende der 80er Jahre gaben alle dem Staatschef die Schuld am desolaten Zustand der Wirtschaft.
Und wie viele Vorwürfe flogen in Richtung der Ehegattin des Generalsekretärs! Die elegante, immer gepflegte, perfekt ausgebildete und sich einwandfrei präsentierende Raissa Gorbatschowa war für die sowjetische Öffentlichkeit ein rotes Tuch. Dabei ging es nicht oder zumindest nicht nur darum, dass sich kaum eine Modeliebhaberin in der UdSSR solche Kleidung leisten konnte, die „Kameradin Gucci“ (so nannten die unzähligen Neider Raissa) immer trug. Auch die wohlhabenden Ehefrauen der sowjetischen Parteibonzen, die die gleichen Möglichkeiten hatten, waren bei Weitem nicht so elegant gekleidet wie Raissa Maximowna.
Aber auch im anderen Lager, unter den sogenannten Demokraten und damaligen Oppositionellen, wird Gorbatschow kritisiert. Ja, mit Gorbi kam Glasnost, bei ihm entstand die neue und tatsächlich freie Presse. Ja, er öffnete die Tür in die große und dank ihm nicht so feindliche Welt. Zu seinen Verdiensten gehört zweifelsohne, dass die Gefahr eines Atomkriegs Ende der 1980er Jahre viel unwahrscheinlicher wurde. Es war Gorbatschow, der die sowjetischen Truppen aus Afghanistan zurückzog. Genauso wie es Michail Gorbatschow war, der das Akademie-Mitglied Andrej Sacharow, Symbol für die Andersdenkenden in der Sowjetunion, aus der Verbannung in Gorki (heute Nischni Nowgorod) holte.
Die Kritik von der demokratischen Flanke – von denjenigen, die den Zerfall der Sowjetunion und vor allem die Entstehung des neuen Russlands begrüßten – ist anderer Natur. Wenn auch diese Kritiker die Errungenschaften von Gorbatschow schätzen, so vergessen sie auch die Niederschlagung der Kundgebung in Tbilissi 1989 und die Ereignisse in Riga und Vilnius im Januar 1991 nicht.
Danke, Gorbi!
Man kann wohl Michail Gorbatschow vieles vorwerfen, es ist ihm nicht gelungen, aus der späten Sowjetunion ein Traumland zu formen. Einige seiner Pläne waren offenkundig naiv, wie zum Beispiel seine Anti-Alkohol-Kampagne, die selbstverständlich scheiterte. Aber in die Geschichte wird Gorbi unbedingt eingehen. Heute wird der sowjetische Staatschef mehr im Ausland als zu Hause gelobt und geachtet. Aber auch in Russland gibt es nicht Wenige, die bereit sind, die Worte des Gründers der demokratischen Partei „Jabloko“ Grigori Jawlinski zu wiederholen. „Gorbatschow hat uns die Freiheit gegeben. Er hat hunderten Millionen Menschen in Russland, in den Nachbarländern und in der Hälfte Europas die Freiheit gebracht. Wie wir diese geschenkte Freiheit, diese großartige Möglichkeit genutzt haben, liegt schon in unserer Verantwortung.“
Igor Beresin
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