
Das Bundesverwaltungsamt (BVA) hat auf seiner Webseite aktuelle statistische Angaben zu den neuen Spätaussiedlern des Jahres 2023 veröffentlicht. Demnach wurden in der Erstaufnahmeeinrichtung Friedland 6655 Personen registriert. Davon kamen sechs aus Rumänien, je eine Person stammte aus Polen und Bulgarien. Die große Mehrheit entfiel auf 13 Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Nur aus Estland und aus Litauen gab es keine Übersiedler. Die meisten kamen wie immer aus Russland: 3329 Personen. Aus Kasachstan waren es 2549, aus der Ukraine 419, aus Kirgisien 169 und einige wenige aus anderen Ländern.
Wie MDZ-Recherchen ergaben, bewegt sich die Zahl der Neuankömmlinge unter den Spätaussiedlern seit 2015 zwischen 6118 (2015) und 7155 (2019). Nur das Jahr 2020 bildete wegen der Corona-Beschränkungen eine Ausnahme (4309). Gleichzeitig erhielt das BVA in den vergangenen zehn Jahren etwa 160.000 Anträge auf Anerkennung als Spätaussiedler, wie sich aus der BVA-Statistik ergibt. Manchmal waren es 20.000 bis 30.000 pro Jahr. Doch die Zahl der Ausreisenden (und der Aufnahmebescheide) blieb praktisch unverändert. In diesen zehn Jahren waren es etwa 69.000.
„Erklärungen lassen sich nicht sicher belegen“
Wie ist diese Kontinuität zu erklären? Eine entsprechende Anfrage der MDZ an das BVA hat Pressesprecherin Ellen Lücke so beantwortet:
„Die Zahl der registrierten Spätaussiedler wird bestimmt durch die Zahl der offenen Aufnahmebescheide, den individuellen Aussiedlungswunsch der Betroffenen und die allgemeinen Rahmenbedingungen insbesondere für die Visaerteilung und die Lage der deutschen Minderheit. Diese komplexe Lage macht für das Bundesverwaltungsamt gewöhnlich die Zahl der Ausreisen unkalkulierbar. Erklärungen für das Einreiseverhalten lassen sich nicht sicher belegen und wären spekulativ.
Allerdings hat es im Jahr 2020 aufgrund der ersten Schwierigkeiten mit der COVID19-Pandemie deutliche Rückgänge der Einreisen gegeben. Danach hat die Voranmeldung des Einreisewunsches über das Visaverfahren verbunden mit der Verkürzung der Visagültigkeitsdauer von Mitte 2020 bis Mitte 2023 zu einem sehr regelmäßigen Einreiseverhalten entsprechend der planbaren Kapazitäten der Transitunterkünfte geführt. Mit der schrittweisen Aufhebung dieses Regimes werden jahreszeitliche und überjährige Schwankungen wieder wahrscheinlicher.“
Eine Frage der Kosten?
Es ist davon auszugehen, dass die Anzahl der neuen Spätaussiedler, die Deutschland aufnehmen kann, auch finanziell bedingt ist. Im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG) vom 26. September 2023 werden die Ausgaben für die neuen Bundesbürger, die auf der Grundlage dieses Gesetzes ankommen, angesprochen. So benötigen sie Rente, obwohl sie früher nichts in die Rentenkasse eingezahlt haben. Sie brauchen Integrationskurse, Migrationsberatung, finanzielle Unterstützung …
In dem Dokument vom September steht geschrieben, dass die deutsche Regierung früher davon ausgegangen ist, dass bis 2070 „voraussichtlich 70.000 Personen“ übersiedeln werden. Wenn die Gesetzesänderungen angenommen werden (und sie sind im November 2023 angenommen worden), kann diese Zahl deutlich ansteigen: „Bei unterstellter gleichbleibender Antragslage werden voraussichtlich etwa 80.000 Personen mehr im Rahmen der Aufnahme nach Deutschland kommen, als nach derzeitiger Rechtslage.“ Die Autoren des Gesetzentwurfs aus den Fraktionen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und FDP schreiben, dass „für diese Personen Aufnahme- und Integrationskosten entstehen werden“.
Was sagt das Gesetz?
Als im Jahre 2013 drei Gesetzesänderungen zum BVFG angenommen wurden, die denjenigen eine Chance gaben, deren Anträge auf Aussiedlung nach Deutschland vorher abgelehnt worden waren, gingen die Gesetzgeber übrigens von 4000 Spätaussiedlern pro Jahr aus. Nach Inkrafttreten der Gesetzesänderungen schlug man im BVA sofort Alarm. Das Amt schrieb einen Brief an die Politiker, in dem von Befürchtungen die Rede war, dass die Zahl der Antragsteller in kürzester Zeit auf Hunderttausende anwachsen könne.
Zahlen dieser Größenordnung hatte der Gesetzgeber aber durchaus einkalkuliert. In §27 (4) BVFG zur „Quote“ (obwohl dieses Wort nicht verwendet wird) ist Folgendes zu lesen: „Für jedes Kalenderjahr dürfen so viele Aufnahmebescheide erteilt werden, dass die Zahl der aufzunehmenden Spätaussiedler, Ehegatten und Abkömmlinge die Zahl der vom Bundesverwaltungsamt im Jahre 1998 verteilten Personen im Sinne der §§ 4, 7 nicht überschreitet. Das Bundesverwaltungsamt kann hiervon um bis zu 10 vom Hundert nach oben oder unten abweichen.“
1998 kamen 103.080 Spätaussiedler nach Deutschland. Aber wie viele von ihnen nach §4 und nach §7 (d.h. Spätaussiedler, Ehegatten und Abkömmlinge) und nicht nach §8 (andere Mitglieder der Familien der Spätaussiedler) einreisten, ist heute schwer festzustellen. Wir gehen davon aus, dass es nach §8 nur 12 Prozent waren, wie auch im Jahr 2023. Das ergibt eine Zahl von ungefähr 91.000 Spätaussiedlern. Folglich können nach §27 (4) BVFG bis zu 100.000 Aufnahmebescheide pro Jahr ausgestellt werden. Dann stellt sich die Frage, warum im Schnitt lediglich knapp 7.000 pro Jahr erteilt werden.
Olga Silantjewa