Gegen den Trend: Neuer Name für alte Straße

Bei Straßenumbenennungen geht in Russland für gewöhnlich nichts. Und dann wieder geht es schnell, sehr schnell, wie das Beispiel Saratow zeigt.

Diese Straße im Zentrum der Regionalhauptstadt Saratow bekam neue Namensschilder. (Foto: Tino Künzel)

Die Markthalle von 1916 und das Konservatorium von 1902 sind zwei prominente Bauten der Wolgastadt Saratow. Noch prominenter ist der Kilometer Fußweg dazwischen. Auf der wohl beliebtesten Straße der Stadt, schon 1983 vom Autoverkehr befreit, trifft man sich zum Flanieren, Einkaufen und Essen. Flankiert von viel historischer und etwas neumodischer Architektur, über die Fremdenführer so einiges zu berichten wissen, nähert man sich in der einen Richtung allmählich dem Bahnhofsviertel, in der anderem dem Wolgaufer.

Zarenminister statt Parteifunktionär

Einst fühlten sich auch die Wolgadeutschen auf diesem Boden zu Hause, bis sie 1941 in Güterwaggons verladen wurden und einer ungewissen Zukunft in Sibirien und Kasachstan entgegenfuhren. Bis 1917 hieß die heutige Fußgängerpassage sogar noch Deutsche Straße. Aber die längste Zeit in ihrer Geschichte trug sie den Namen Kirow-Prospekt, nämlich von 1935 bis vor wenigen Wochen. Dann passierte etwas, was wohl niemand für möglich gehalten hatte: Erstens wurde der Kirow- in Stolypin-Prospekt umbenannt, was an sich schon ein bemerkenswerter Vorgang ist, weil Umbenennungen schon seit langem Seltenheitswert haben, erst recht von großen Innenstadtstraßen. Zweitens ging es so schnell, dass selbst viele Einheimische erst post factum davon erfahren haben dürften.

Kirow und Stolypin sind zwei ungleiche Namenspatrone. Immerhin verbindet sie, dass beide keines natürlichen Todes starben, sondern Attentaten zum Opfer fielen. Sergej Kirow war einer der hochrangigsten Politiker der Stalin-Zeit, Parteichef von Leningrad, bis er 1934 bei einem Anschlag ums Leben kam. Stalin nahm den Mord zum Anlass für „Säuberungen“, was ein harmloses Wort für eine beispiellose Welle an politischer Verfolgung ist, die vor allem in den Reihen der Partei wütete. Parallel wurde Kirows Name in allen möglichen Bezeichnungen verewigt. Bis heute sind in Russland zahllose Straßen, Plätze und Parks nach ihm benannt, nicht zu vergessen eine ganze Stadt: Die Rede ist vom früheren Wjatka, einem bedeutenden Ort an der Transsibirischen Eisenbahn, 900 Kilometer nordöstlich von Moskau.

Umbenennung innerhalb von vier Tagen

Pjotr Stolypin war von 1906 bis 1911 Innen- und Premierminister unter Zar Nikolaj II. Mit einer Agrarreform tat er viel für die Landbevölkerung, setzte zudem eine der größten Umsiedlerbewegungen in der Geschichte Russlands in Gang, in deren Verlauf Millionen Menschen nach Sibirien umzogen. Stolypin hätte das Zeug gehabt, den Untergang des Zarenreichs und die Machtübernahme der Kommunisten zu verhindern, glauben viele bis heute. Konservative zitieren gern einen Ausspruch von 1907, mit denen er in der Duma für eine schrittweise Umgestaltung eintrat, die Jahre harter Arbeit bedeuten könne, und „radikalen“ Gegnern vorwarf, sie wollten Russland seines historischen Erbes und seiner kulturellen Traditionen entledigen: „Denen ist an großen Erschütterungen gelegen, uns an einem großen Russland.“

Stolypin wurde 1911 bei einem Besuch des Kiewer Opernhauses durch Schüsse tödlich verletzt. Von 1903 bis 1906 war er Gouverneur von Saratow gewesen und hatte sich dabei offenbar wärmstens für höchste Staatsämter empfohlen. Nun soll von höchster Stelle durchgedrückt worden sein, dass er in Saratow toponymisch gebührend gewürdigt wird. Nach Zeitungsberichten hat der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, die Sache am 14. April aus Anlass des 160. Geburtstags von Stolypin (der 1862 übrigens in Dresden zur Welt kam) eingefädelt. Schon einen Tag später stimmte eine Fachkommission in Saratow einstimmig für den Vorschlag, am 18. April folgte ein entsprechender Erlass von Bürgermeister Michail Issajew. Daraufhin wurden in kürzester Zeit sämtliche Namensschilder ausgetauscht und sogar Online-Straßenkarten neu beschriftet, auf dass nichts mehr an früher erinnerte.

Sowjetische Straßennamen weithin präsent

Für Russland war diese Aktion nicht nur deshalb ungewöhnlich, weil sie quasi über Nacht erfolgte. Nach einer Welle von Umbenennungen vor allem Anfang der 1990er Jahre war der Prozess nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Bis dahin hatten in Moskau mehr als 150 Straßen überwiegend ihre historischen Bezeichnungen zurückerhalten. Im gesamten Land wurden Städte um- beziehungsweise rückbenannt. Als Beispiele könnten St. Petersburg (Leningrad), Nischnij Nowgorod (Gorki), Jekaterinburg (Swerd­lowsk), Samara (Kujbyschew) oder Twer (Kalinin) gelten. Manches war schon damals halbherzig. Das St. Petersburger Umland blieb weiterhin die Leningrader Region, an Jekaterinburg grenzt bis heute die Swerdlower Region.

Doch der Elan der Perestroika- und nachfolgenden Jahre verpuffte bald. Vielleicht hatte man in den 1990er Jahren auch andere Sorgen. Doch während in Moskau zumindest ein Großteil der sowjetischen „Ehrennamen“, die an Parteikader, Revolutionsgeburtstage oder Fünfjahrpläne erinnern, längst aus dem Straßenbild verschwunden ist, blieb in der Provinz nahezu alles beim Alten. Die zentralen Straßen und Plätze sind bis heute in der Regel nach Lenin benannt. Zweit- und drittrangige heißen nach Kirow, Kalinin oder Frunse. Vielleicht ist ja nun auch Stolypin ein Kandidat.

Tino Künzel

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