Gedanken über das Kinderkriegen in Russland

Nach dem Willen von Präsident Wladimir Putin sollen russische Mütter ab sofort bereits für das erste Kind Unterstützung in Form des sogenannten Mutterschaftskapitals erhalten. Damit sollen junge Frauen unterstützt und die Geburtenrate angehoben werden. Unsere Redakteurin berichtet, wie es ist, in Russland ein Kind aufzuziehen.

Die Autorin mit ihren Töchtern im Grünen. Eine Datscha durfte sie vom Mutterschaftskapital nicht kaufen. (Foto: privat)

Im Jahr 2011 wurde ich das erste Mal Mutter. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich damals in einem Moskauer Vorort gewohnt. Während der Schwangerschaft und im ersten Jahr danach habe ich viel Zeit bei Ärzten verbracht. Genauer gesagt in den Warteschlangen vor der Praxis. Denn für einen Spezialisten musste man oft zwei Stunden anstehen. Wer weniger Glück hatte, ging an diesem Tag leer aus. Es war wie eine Lotterie. 

 Das Geld, das wir vom Staat für unsere Tochter erhielten, reichte kaum aus, sich einen Kinderwagen zu kaufen. Da wir im Moskauer Umland lebten, aber in der Stadt registriert waren, hatten wir kein Anrecht auf die Milchküche (Anm. d. Red.: Eine Einrichtung für kostenlose Kindernahrung). 

Wir standen damals auf der Warteliste für den Kindergarten. Den Platz haben wir aber erst bekommen, als das Kind fast vier Jahre alt war. Ich habe damals von Zuhause aus gearbeitet. Und das hauptsächlich nachts. Vom Staat haben wir keinerlei Hilfe bekommen. Und vernünftige Spielplätze gab es bei uns im Ort auch nicht.

Im Vorort heißt es warten

Im Jahr 2015 haben wir eine Hypothek aufgenommen und uns eine Zweizimmerwohnung in Moskau gekauft. Am Tag nach unserem Einzug haben wir uns um einen Kindergartenplatz beworben – und ihn sofort bekommen! Wir konnten sogar zwischen mehreren in der Nähe unserer Wohnung auswählen. So konnte ich endlich vernünftig, also tagsüber, arbeiten! Bei uns in der Nähe gab es so viele verschiedene Spielplätze, dass wir jeden Tag einen anderen ausprobiert haben. Außerdem gab es einen Park, einen See und über die Straße eine Kinderpoliklinik. Dort musste man nicht mehr Ewigkeiten anstehen. Denn den Termin gab es per Internet.

Ich war begeistert, wie angenehm es hier ist, ein Kind großzuziehen! Gerne noch eins mehr! Aber der Park, die elektronische Terminvergabe in der Poliklinik und selbst die beinahe 453 000 Rubel (6600 Euro) Mutterschaftskapital für das zweite Kind – all das hat nicht geholfen, sich für ein zweites Kind zu entscheiden.

In Moskau sind die Bedingungen besser

Das liegt in erster Linie daran, dass ich in der Familie die Haupternährerin bin. Mein Mann ist im Ruhestand und von seiner Rente und dem, was er noch zusätzlich verdient, kann man nicht leben. Erst recht nicht zu viert. Aufhören zu arbeiten, und sei es nur zeitweise, kam nicht in Frage. Da konnte von einem zweiten Kind keine Rede sein. Ich hatte mich mit dem Gedanken abgefunden.

Doch am 31. Oktober 2017 wurde alles anders. Während die Welt an diesem Tag den 500. Jahrestag der Reformation beging, erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Achte oder neunte Woche. Schwer zu sagen, ob es ein Schock für mich war – schließlich war ich damals schon 40. Ich kann kaum beschreiben, wie es mir in den ersten Wochen nach dieser Nachricht ging. Doch ehrlich gesagt: Nachdem ich Pro und Kontra abgewogen habe, habe ich auf die Unterstützung des Staates, auf das Verständnis meines Arbeitgebers und auf meine eigene Kraft vertraut. Auf die Unterstützung meiner Eltern konnte ich nicht hoffen, sie wohnen weit entfernt. Und ein Kindermädchen können wir uns nicht leisten. 

Geschenke für das zweite Kind

Ende Mai 2018 kam schließlich unsere zweite Tochter zur Welt. Als wir aus der Geburtsklinik entlassen wurden, erhielt die Kleine eine „Mitgift“, einen riesigen Korb mit Sachen. Darin war so ziemlich alles, was ein Kind im ersten Lebensjahr braucht, bis hin zu einem Winter-Overall aus Fell. Seit dem 1. Januar 2018 macht die Stadt Moskau solche Geschenke. Wir hatten also Glück. Mit sechs Monaten erhielt meine Tochter Kindernahrung in der Milchküche. Bis sie ein Jahr alt war, mussten wir nichts zusätzlich kaufen. Seit dem ersten Geburtstag bekommen wir monatlich Säfte, Milch, Fruchtpüree, Kefir und Tworog. Und das, bis sie drei wird.

Gleich nach der Geburt habe ich das Mutterschaftskapital beantragt.  Wir haben überlegt, was wir damit machen. Für die Hypothek mussten wir nicht mehr so viel zahlen. Deswegen wollten wir von dem Geld eine Datscha kaufen. So könnten die Kinder an der frischen Luft, weiter weg vom Moskauer Smog, aufwachsen. Das ging allerdings nicht. Denn man darf vom Mutterschaftskapital zwar Wohnraum kaufen, aber eine Datscha gehört nicht dazu. Blieben also zwei Möglichkeiten. Entweder in die Bildung der Kinder oder meine eigene Rente investieren. Doch das ist alles noch Zukunftsmusik. Und so liegt der Bescheid des Mutterschaftskapitals noch im Schrank (Anm. d. Red.: Das Geld wird nicht ausgezahlt, sondern als eine Art Gutschein ausgegeben). Noch haben wir uns nicht entschieden, wofür wir es einsetzen. 

Finanzielle Unterstützung – aber reicht die?

2018 hat Wladimir Putin versprochen, Familien, in denen ein zweites Kind geboren wird, Kredite teilweise abzunehmen. Für uns hieß das, dass wir für unsere Hypothek nur noch sechs statt zwölf Prozent Zinsen hätten zahlen müssen. Allerdings haben wir von der Bank eine Absage bekommen. Entweder hat sie nicht am Programm teilgenommen oder wir haben die Voraussetzungen nicht erfüllt. So genau weiß ich das nicht mehr. Also mussten wir weiterhin die vollen zwölf Prozent für die Hypothek aufbringen. Glücklicherweise haben wir sie vorzeitig im Dezember 2019 abbezahlt. 

Kinder- und auch das Mutterschaftsgeld waren für mich eine gute Unterstützung. Ich habe die Maximalsumme von ungefähr 61 000 Rubel (890 Euro) im Monat bekommen. Da mein Gehalt aber höher war, habe ich mich entschieden, bis zur Geburt durchzuarbeiten. Danach habe ich mir drei Monate Auszeit genommen. Als die Zeit ablief, musste ich wieder halbtags arbeiten. Das Gesetz erlaubt es, Teilzeit zu arbeiten und gleichzeitig Leistungen für die Kinderpflege zu bekommen. Das sind immerhin 24 000 Rubel (350 Euro). Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, hätte es diese Möglichkeit nicht gegeben. Ich bin froh, dass das nun alles hinter mir liegt. 

Ältere Kinder bekommen wenig

Dafür haben andere schwere Zeiten bekommen. Da meine Tochter älter als anderthalb ist, gibt es kein Geld mehr für die Kinderpflege. Eine von Putin angekündigte Unterstützung für Kinder bis zu drei Jahren bekommen wir nicht. Wir sind anscheinend nicht arm genug, um vom Staat 10 000 Rubel (146 Euro) zu erhalten. Fairerweise muss man auch sagen, dass es vorher überhaupt nichts gab, außer 50 Rubel (73 Cent) pro Monat.

Wir nehmen dafür andere Unterstützung in Anspruch. Mit anderthalb erhalten Moskauer Kinder 3,5 Stunden Betreuung täglich. Es heißt, dass es sogar Kinderkrippen gebe. Ich selbst habe aber noch keine gesehen. Und ich kenne niemanden, der sein Kind dorthin gegeben hat. Nach einem Monat haben wir einen Platz in unserem Wunschkindergarten bekommen. Meine Tochter fand ihn aber nicht so toll. Und so ging es nach 15 Minuten im Kindergarten, in denen sie nicht aufgehört hat zu brüllen, wieder nach Hause.

Hoffen auf den Urlaub

So bleibt erst einmal alles beim Alten. Morgens bin ich mit der jüngeren Tochter zusammen, tagsüber lege ich mich mit ihr zwei Stunden hin. Nach dem Mittag hole ich mit der Kleinen die Ältere aus der Schule ab und bringe sie zu ihren Kursen, Englisch und Schwimmen. Abends Spaziergang, Abendbrot, Hausaufgaben. Wenn dann alle im Bett sind, fange ich an zu arbeiten. Mein Mann hilft natürlich, wo er kann. Er verbringt Zeit mit der Kleinen, bringt die Ältere ab und zu zum Schwimmen, macht Abendbrot und wäscht ab.

Laut Statistikbehörde Rosstat sind wir eine russische Durchschnittsfamilie: zwei Kinder, Wohnung (mit Hypothek gekauft), ein Auto und einmal im Jahr Urlaub am Meer. Und nach diesem Urlaub sehne ich mich unglaublich! 

Olga Silantjewa

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